Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Medikamente und beruhig dich.«
»Ich habe diese Medikamente nur eine Woche lang genommen, und auch nur, weil es hieß, sie seien gegen die Schmerzen. Und das ist jetzt ein Jahr her!« Ich wurde noch einen Tick lauter. Der Klient sollte nicht angestrengt lauschen müssen.
»Ach ja, richtig. Dann lass dir von Marietta einen Kaffee kochen und fahr nach Hause.«
»Warum hast du mich angelogen?«
»Warum hast du mich angelogen, warum hast du mich angelogen! Wieso wiederholst du das immer?«
»Also warum?«
»Wärest du sonst hingegangen?«
Ich hatte mich inzwischen zu der abgeschirmten Sitzgruppe schieben lassen, dem quadratischen Tisch mit kleinen glitzernden Mineralwasserflaschen und den ordentlich gestapelten Fachzeitschriften für Jäger. Ich ließ mich auf einen der Stühle neben einer Kiste mit speckigen Bauklötzen fallen, der daraufhin kläglich ächzte.
»Ich gehe auch nicht mehr hin, nur dass du es weißt.«
»Ist recht. Versaure zu Hause.«
Sie zog mir schmerzhaft an dem heil gebliebenen Ohr und verschwand hinter dem Milchglas. Die Tür, geräuschvoll zugezogen, vibrierte klirrend, und die benachbarten Türen stimmten mit ein. Claudias Entschuldigung hallte durch den Flur.
Ich nahm den Kaffee, den mir Marietta mit einem verständnisvollen Lächeln hinhielt, und verschüttete beim Trinken die Hälfte auf meine Hose. Ich konnte immer noch nicht richtig zurücklächeln, die Lippe tat weh, und die Haut spannte über der ganzen Wange, als wäre sie zu eng vernäht.
Im Auto hielt sie die Hand mit der Zigarette aus dem Fenster und schnippte die Asche in den Wind. Der Wind blies sie zurück, auf Claudias Ärmel sah sie aus wie Schuppen. Ich wartete darauf, dass sie mich über die Krüppel-Gruppe ausfragen würde. Dass sie sich für Behinderungen der anderen Teilnehmer interessieren und mir dann sagen würde, ich solle mich glücklich schätzen: Ich könne schließlich laufen, sehen und hören, mir stünde die Welt weiter offen. Sie hatte mir das alles schon länger nicht mehr gesagt.
»Claudia«, sagte ich. Sie schaute, von meinem Tonfall überrascht, zu mir rüber. »Wenn du ein Mädchen wärest: Würdest du schreiend vor mir wegrennen?«
»Ich bin ein Mädchen.« Sie schaltete das Radio aus und schob eine CD in den Schlitz am Armaturenbrett.
»Deswegen frage ich.«
»Du kennst doch dieses Märchen.« Es musste eine ihrer Yoga-CDs sein, das Auto füllte sich mit einem merkwürdigen Stöhnen. Claudia drehte die Lautstärke herunter, bis nur noch ein leises Summen zu hören war.
»Welches Märchen?«
»Die Schöne und das Biest.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, bis es salzig schmeckte, und spürte immer noch nichts. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Claudia oft wiederholt hatte, dass ich gar nicht schlimm aussähe, dass ich fast so schön wäre wie früher, dass ich mich nicht zu verstecken brauchte. Dass meine Probleme nur im Kopf säßen: Ich hätte mir eingebildet , entstellt zu sein. »Guck dich doch mal im Spiegel an, du bist gar nicht hässlich«, hatte sie wiederholt und meinen Kopf festgehalten, weil ich mich von meinem Spiegelbild weggedreht hatte. »Das Leben ist wegen der paar Narben noch nicht vorbei, Marek.« Sie hatte es so oft abgespult, dass ich schon gedacht hatte: Wenn sie es noch zehn Mal sagt, glaube ich es ihr. Oder noch fünfzehn Mal. Oder hundert.
Und jetzt sagte sie: Die Schöne und das Biest. Ich schaute schweigend aus dem Fenster. Draußen war Nacht. Ich hatte in der Ecke über eine Jägerzeitschrift gebeugt gewartet, bis es dunkel geworden war. Marietta war längst nach Hause gegangen, und Claudia hätte mich beinahe in der Kanzlei eingeschlossen. Sie hatte eine Weile nach Luft geschnappt und sich die linke Brust gehalten, als ich sie von meinem Platz hinter dem Paravent gerufen hatte.
»Nimm wenigstens jetzt die verdammte Sonnenbrille ab.« Sie warf die Zigarette weg und schloss per Knopfdruck das Fenster. »Nicht, dass du dir auch noch die Augen verdirbst.«
Am nächsten Donnerstag war ich überrascht, dass sie alle wieder da waren. Bis auf Marlon und den Guru jedenfalls, und die vermisste ich nicht. Janne wurde von der Frau begleitet, die wie ihre ältere Kopie aussah. Nur eben mit Beinen. Sie schob Jannes Rollstuhl den langen Flur entlang, und die alten Dielen des Familienbildungszentrums quietschten unter den Rädern.
»Hallo, Janne«, sagte ich, als ich sie beide überholte.
»Hallo, Mark.« Sie sah flüchtig zu mir hoch und dann starr nach vorn.
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