Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Gesicht. Jemand klopfte an die Tür.
»Gleich«, brüllte ich und ließ mich auf den Klodeckel fallen.
Ein Auge juckte mehr als das andere. Wahrscheinlich hatten sie mir aus Versehen auch noch den Tränenkanal zugenäht. Claudia hatte am Anfang viel geheult, immer wenn sie gedacht hatte, dass ich es nicht mitkriege. Aber natürlich hatte ich alles mitbekommen. Sie war mit aufgedunsenem, fleckigem Gesicht umhergelaufen, mit zu Schlitzen verengten Augen, dazwischen Inseln ungleichmäßig aufgetragenen Abdeckstifts, und hatte gedacht, dass das keiner merkt.
Und dann war sie plötzlich wieder fröhlich geworden. Einfach so, ich hatte gar nicht bemerkt, wann es genau passiert war. Als wäre ein Schalter umgelegt worden. Sie hatte sich an alles gewöhnt, viel schneller, als ich erwartet hatte. Sie konnte mir ins Gesicht sehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Am Anfang hatte sie die Narben noch oft mit den Fingerspitzen berührt, gefragt, ob es wehtue, und beteuert, ich sei überhaupt nicht hässlich. Das machte sie inzwischen auch nicht mehr.
Die Klotür zitterte unter den Faustschlägen.
Ich stand auf, schob mir die Sonnenbrille in die Stirn und riss die Tür auf. Sah einen jungen Kellner mit schwarzer Hose, Weste und Fliege. Sein Mund öffnete sich in einem lautlosen Schrei, aber an der Rundung stimmte etwas nicht. Lippen- und Zungenschwäche, dachte ich. Hätte als Kind zum Logopäden gehen müssen. Bestimmt nuschelt er jetzt.
»Buh!« sagte ich und ging an ihm vorbei ins Freie.
Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass jemand meinen Pschyrembel genommen hatte.
Es war mein eigener, ich hatte ihn mir vor einem halben Jahr gekauft, in einer ordentlichen medizinischen Fachbuchhandlung. Er stand in meinem Buchregal zwischen einem anatomischen Atlas, einem von Großvater geerbten Lehrbuch der Gynäkologie und Geburtshilfe vom Beginn des letzten Jahrhunderts und einem ebenso historischen, jedoch absolut unnützen Wälzer mit dem romantischen Namen »Die Kunst zu heilen«, den nur sein schöner Umschlag vor dem Altpapier gerettet hatte. Den hatte mir Claudia vor zwei Monaten zum Geburtstag geschenkt, in der Hoffnung, dass mein neues Interesse für medizinische Nachschlagewerke irgendwas Gutes für meine Zukunft und unser Zusammenleben bedeutete.
»Siehst du«, hatte sie anerkennend gesagt, nachdem ich das Buch ausgepackt hatte. »Es ist völlig normal, dass man nach gravierenden Einschnitten neue Horizonte für sich entdeckt. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schöner.«
»Amen«, hatte ich gesagt und das Geschenkpapier ordentlich zusammengefaltet. Ein kurzes Durchblättern des Wälzers bestätigte die Vermutung, dass Claudia auch mit diesem Geschenk völlig danebenlag. Ich interessierte mich nicht für die Geschichte der Medizin. Und ich wollte auch niemandem helfen. »Danke für das schöne Buch«, sagte ich. »Du darfst es dir jederzeit gern ausleihen, zum Beispiel, wenn du einen Briefbeschwerer brauchst.« Sie zuckte mit keiner Wimper.
Die Geschichte der Heilkunst stand noch da. Die Gynäkologie und Geburtshilfe ebenfalls. »Plastische Chirurgie: Band I Grundlagen Prinzipien Techniken«, Kostenpunkt 229 Euro, alles an seinem Platz.
Der Pschyrembel war weg.
Ich raste hinunter in die Küche und zog den Stecker des Staubsaugers, dessen Schlauch in den Händen unserer Putzfrau zuckte. Frau Hermann war eine hochgradig kurzsichtige und auch sonst schwer kranke Person. Früher einmal musste sie fitter gewesen sein, aber daran konnte ich mich nicht erinnern. Vorgestern war mir eine Spinnwebe von der Küchenlampe in die Minestrone gefallen.
Frau Hermann wandte sich zu mir um. Sie war sehr klapprig, und die wenigen grauweißen Fusselhaare standen von ihrem Kopf ab, zusammengehalten von einer Haarklammer wie bei einem Chihuahua.
»Möchten Sie einen Kaffee?« fragte ich. Ihr Blick streifte gleichgültig über mein Gesicht. Sie hatte ganz andere Probleme, deswegen fühlte ich mich in ihrer Gegenwart entspannt.
»Ja, vielleicht«, sagte sie.
»Kommt.« Ich malte mit den Händen ein Rechteck in die Luft. »Haben Sie mein dickes grünes Buch gesehen?«
»Das mit den Schweinereien?«
»Nein, das andere. Aber auch nicht lecker.«
»Grün?«
Ich nickte.
»Bei Mama auf dem Nachttisch«, sagte sie und drehte mir den Rücken zu. Dabei machte sie eine Geste mit zwei ausgestreckten Fingern. Ich verstand und stöpselte das Staubsaugerkabel wieder ein.
Ich hatte Claudias Schlafzimmer nicht mehr
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