Neobooks - Die Zitadelle der Träume
kaum, können ohne Rast tagelang laufen, trinken und essen nur, wenn gerade etwas da ist, sie reden kaum, spüren Schmerzen wohl gar nicht und tun, was immer ihnen der Hexenmeister sagt. Was auch immer sie einmal waren … Menschen sind sie nicht mehr.«
Seinem Bericht folgte längeres Schweigen.
»Dann sind wir verloren«, brachte Morwena schließlich mit brüchiger Stimme hervor.
Canon nahm sofort ihre Hände. »Nein, Mutter! So etwas darfst du nicht sagen, so etwas darfst du noch nicht einmal denken. Camora hat einen großen Fehler begangen, als er seinen Sieg ausgerechnet am Göttertag feiern wollte. Niemals werden die Götter einen solch abscheulichen Frevel an ihrer Schöpfung hinnehmen, und niemals wird der Schwarze Fürst daher den Sieg erringen können. Vertraue auf die Weisheit und die Gerechtigkeit der Götter, die Stärke der freien Menschen und auf das Erscheinen unseres Großkönigs. Zusammen mit Kahandar wird er uns in den Sieg führen. So steht es geschrieben, so wird es sein.«
Morwena blickte unverwandt in die eisblauen Augen, die so viel Zuversicht und Sicherheit ausstrahlten, und ihr Herz quoll fast über vor Liebe und Stolz auf ihren Sohn, der so wunderbar mit Worten umgehen konnte. »Du hast ja so recht, mein Lieber. Es steht mir nicht zu, an der Weisheit der Götter zu zweifeln.«
Auch Derea betrachtete seinen Bruder, und ihm fiel einmal mehr auf, dass der wirklich ein begnadeter Redner, aber auch ein unglaublicher Flunkerer war, denn er wusste eben auch, dass Canon sich die größten Sorgen machte und ebenfalls kaum noch auf das Erscheinen der Echsenmenschen hoffte.
»Der Sieg muss unser sein. Das sehe ich auch so, weil es gar nicht anders sein kann, aber wir sollten den wohlmeinenden Göttern vielleicht trotzdem etwas zu helfen versuchen«, erklärte er daher mit nüchterner Stimme, »und die Reiterei diesmal allen Regeln der Kampfkunst zuwider in der Mitte angreifen lassen. Zumindest könnten wir so die Schattenkrieger auseinandertreiben. Einzeln sind sie sicher bedeutend leichter zu besiegen!«
Canon grinste in sich hinein, und Darius rutschte im Stuhl nach vorn. »Das ist ein ungewöhnlicher, aber sehr guter Gedanke. Wenn wir …«
Während er jetzt gemeinsam mit Derea und Canon die möglichen Aufstellungen der Kampfreihen erörterte, betrachtete Morwena ihre Söhne voller Liebe und voller Furcht, und sie betete zu den Göttern darum, dass die sie zumindest vor ihren Söhnen sterben ließen.
Es würde ein wunderschöner, warmer Sommertag werden. Morgentau benetzte noch die Gräser, die ersten frühen Vögel zwitscherten munter, und die aufgehende Sonne zauberte ein prächtiges rotes Farbenspiel an den fast wolkenlosen Himmel.
Sie standen auf dem Westhügel in schier endlosen Reihen, dicht an dicht, Pferd an Pferd, Mann an Mann. Vor ihnen lag das Feld der Träume, eine große Senke, umgeben von sanften Hügeln, in deren Mitte das Heiligtum der Reiche stand: die Zitadelle der Träume.
Es war lediglich ein schlanker Turm, aus dem schwarzen Stein des Kimmgebirges erbaut, aber in seinem Inneren befanden sich Schätze der Reiche: der Altar der ersten von allen Reichen gewählten Großkönigin und zahlreiche schwarze Tongefäße, die die Asche sämtlicher Großkönige aufbewahrten. Lediglich dem letzten König von da’Kandar war diese Ehre nicht zuteilgeworden. Seine Urne beherbergte eine schwarze Rose.
Fürst Darius warf Morwena einen Seitenblick zu. »Ich frage dich jetzt zum letzten Mal: Wirst du dich mit mir verbinden, wenn es noch ein morgen gibt?«
Über ihr kummervolles Gesicht glitt ein kleines Lächeln. »Ich sage es dir jetzt zum ersten Mal: mit Freuden, Darius!«
Ihr Blick schweifte zu Canon, der hoch zu Ross vor seinem Heer stand, dann weiter zu Derea, der die Flammenreiter anführte, und weiter zu Marga, die vor ihrer Truppe wartete. Sämtliche Krieger, die die Freien Reiche aufzubieten hatten, waren versammelt. Fürsten und Heerführer standen vor ihren Verbänden. Es mussten weit mehr als zwanzigtausend Mann sein, die hier der Schlacht entgegensahen, aber kaum ein Laut war zu hören, lediglich hin und wieder das Wiehern oder Schnauben eines Pferdes.
Die Anspannung der Krieger war mehr als deutlich zu spüren, und wie Vorboten ihrer Niederlage hingen die bunten Banner ohne jeden Wind schlaff an ihren Stangen herunter. Zwar hatten die Heerführer es vermieden, ihren Männern von den Schattenkriegern zu berichten, aber wie bei allem, was geheim gehalten werden
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