Neobooks - Transalp 9
Ein Junge würde geboren. Das spürte sie. Der zum Mann heranwachsen würde. Zum Vollstrecker des Vermächtnisses. Hagen. So würde sie ihn nennen. Hagen, der Bezwinger des Drachentöters Siegfried. Immer wieder sagte sie diesen Satz vor sich her.
Wenn sie nur endlich am Ziel ankäme, ihre Aufgabe erfüllen und sich dann zu den anderen zurückziehen könnte. Sie waren sicher schon längst untergetaucht, hoffte sie. Sie hätte zu gerne gewusst, an welchem Ende der Welt Mainhardt sie wieder in die Arme nehmen würde. Wie viele von ihnen es wohl geschafft hatten? Sie grübelte nachts, wenn sie auf den schmalen Pfaden wanderte. Sie schreckte trotz ihrer Erschöpfung aus ihrem unruhigen Schlaf auf, den sie sich tagsüber gönnte. Und immer wieder die Frage: Was, wenn sie selbst es nicht schaffte? Nein, diese Möglichkeit war keine, die sie weiterdenken durfte. Sie musste es schaffen. Und sie würde es schaffen.
Seit Tagen litt sie Hunger. Ihre Vorräte waren längst aufgebraucht. Anfangs versuchte sie, aus den Gärten Obst zu stehlen, aber reif war hier noch nichts. Und auch sonst ließen die Bewohner der Gebirgsdörfer nichts Essbares einfach so draußen herumstehen.
Auch in diesem Ort war das nicht anders. Sie streifte bis in die frühen Morgenstunden um die Ställe herum, immer darauf bedacht, kein Vieh aufzuscheuchen, und immer in der ständigen Angst, dass ein Hund anschlagen würde. Schließlich wurde sie von der Erschöpfung überwältigt. Sie legte sich auf eine Bank an einem Brunnen.
Als sie die Hand des Mannes auf ihrer Schulter spürte, wollte sie sich zuerst wehren und weglaufen. Doch dann sah sie, dass der Mann die schwarze Soutane eines katholischen Pfarrers trug und sie sich vor einer Kirche befand. Konnte sie dem Geistlichen trauen? Er sah gut genährt aus. Konnte sie vielleicht sogar bei ihm etwas zu essen bekommen? Sie ging mit ihm mit. Der Priester sprach Deutsch. Er nahm ihr die Beichte ab. Sie sagte ihm alles. Vom Bunker. Von München. Vom Vermächtnis. Von den Steinen. Dann beichtete er, dass er selbst ein großes Problem hatte. Er hatte geschworen, den gotischen Turm seiner Kirche instand zu setzen. Und dass er sie ziehen lassen würde, ohne die amerikanische Militärpolizei in Bozen zu verständigen. Wenn sie Buße tun und ihm die Steine zur Rettung des Turmes und der wertvollen Fresken anvertrauen würde. Christina Gerdens handelte den Preis für ihre Freiheit auf die Hälfte des Beutelinhalts herunter. Am Schluss war ihr, als ob der Teufel bei der Verhandlung am Tisch gesessen sei.
Sie war sich nur nicht sicher, auf welcher Seite.
Punta-Rocca-Seilbahn, 13.25 Uhr
Die Seilbahn auf dem 3309 Meter hohen Marmolata-Gipfel Punta Rocca bestand aus drei Teilabschnitten. An der zweiten Zwischenstation lockte das Museum des Ersten Weltkriegs den wissbegierigen Anselm Plank. Stephanie Gärtner zu einem Besuch zu überreden gelang ihm mit dem Hinweis, dass es Benno Spindler ja durchaus zuzutrauen wäre, in der Ausstellung Hinweise versteckt zu haben. Das bedeutete, dass sie auch jede Tafel und jeden Winkel des Museums, das im Bergbahngebäude der Station Serauta untergebracht war, unter die Lupe nehmen mussten. Gärtner hatte keine Ahnung gehabt, dass sich im Ersten Weltkrieg die österreichisch-ungarischen Truppen mit den italienischen erbitterte Gefechte um dieses Stück Fels geliefert und sich kilometerweit in den Berg hineingegraben hatten.
Erschüttert verließen sie die Einrichtung und begaben sich zum dritten Abschnitt der Seilbahn, die sie zu einer Bergstation führte, die wie ein Schwalbennest an einen der senkrechten Felstürme geklebt war. Ein Schwalbennest aus Stahl und Beton. Es beherbergte auch das als Schutzhütte ausgeschilderte Refugio Punta Rocca. Diese Hütte war nicht mehr als eine Notunterkunft, gedacht für den Fall, dass Bergsteiger die Bahn nicht nutzen konnten, sei es, weil sie außerhalb der Betriebszeiten dort ankamen, oder, weil ein Wettersturz die Bahn lahmlegte. Ein Hüttenleben gab es hier nicht und daher auch keine Möglichkeit, in der Bibliothek, auf Pinnwänden oder an sonstigen markanten Stellen eine Nachricht zu hinterlassen. Spindler musste also wieder eine ganz ausgefallene Idee gehabt haben. Auch kein allerhöchstes Bäumchen Italiens war hier zu finden, keine Bergdohle hatte einen Zettel im Schnabel. Dafür gab es im Felssockel unter der Station eine der Jungfrau Maria geweihte Grotte, ein beliebtes Wallfahrtsziel, da Papst Johannes Paul II. die dortige Madonna
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