Neobooks - Transalp 9
persönliches Problem, und das hatte mit Spindlers Brief an ihn zu tun. Was, wenn der Mann recht hatte? Wenn Adolf Hitler in seinem Vermächtnis gar nicht den Kampf fortsetzen wollte, sondern kapitulierte? Es gab ja Andeutungen aus seinen letzten Tagen. Dass er das deutsche Volk als verweichlicht und rassisch minderwertig angesehen hatte gegenüber dem stärkeren Ostvolk vom Ural, das schon mitten in Berlin gestanden war. Dass sich die Arier obendrein von den jüdisch unterwanderten USA hatten unterbuttern lassen, dass sein ganzer Kampf letztlich umsonst gewesen war, das hätte dem Führer durchaus durch den Kopf gehen können. War es das, was er zu Papier gebracht hatte? Das durfte nicht sein. Hagen musste um jeden Preis verhindern, dass dieses Vermächtnis geöffnet würde. Es wäre möglicherweise das Ende der Bewegung und gleichzeitig der Triumph, ja der Endsieg über die arische Rasse. Dann und nur dann wäre der Krieg wirklich verloren. Der Opfergang des deutschen Volkes zwecklos gewesen. Nein, er musste diesen Spindler um jeden Preis loswerden. Der war der Einzige, dem er zutraute, das Versteck aufzuspüren, in dem sich das Vermächtnis seit über 65 Jahren befand. Andererseits – konnte er sich sicher sein, was im Vermächtnis stand? Natürlich nicht. Vielleicht war es doch besser, Spindler am Leben zu lassen. Sich ihm an die Fersen zu heften, bis er das Vermächtnis gefunden hätte. Außerdem – was wusste Spindler über Hagens Mutter Christa Gerdens, was Hagen nicht wusste?
Mehr als ein paar Gerüchte über das Versteck des Vermächtnisses gab es ja nicht. Und dazu die Aussagen von Mainhardt Roll. Sein Vater Mainhardt Roll. Aber auch diese Vaterschaft konnte er nur vermuten. Denn der Mann, der als sein offizieller Vater gestorben war, war ja zusammen mit seiner Mutter in Südamerika – zu der Zeit, als Roll in Gefangenschaft war. Mainhardt Roll jedenfalls hatte die Geschichte mit dem Vermächtnis und den Brillanten in russischer Gefangenschaft zu Protokoll gegeben. In russischer Gefangenschaft. Was man da alles aussagen würde, wenn die die richtigen Fragemethoden verwendeten … Etwa so glaubhaft wie die Geschichte von dem U-Boot, das Admiral Dönitz im Mai 1945 von Laboe in der Kieler Förde auf Schleichfahrt geschickt haben soll. An Bord 140 Barren Gold. Kurs: Venedig.
Das nächste Problem: Hagen durfte seinen Kameraden kein Wort davon sagen. Es waren ja nicht alle die Hellsten. Würden sie seine Motive verstehen, warum er das Vermächtnis des Führers unter keinen Umständen öffnen wollte? Das würden sie wohl nicht. Auf die feinere Psychologie verstanden sie sich nicht. Auch nur laut darüber nachzudenken, dass das Vermächtnis des Führers wehrkraftzersetzende Propaganda enthalten könnte, wäre ein Sakrileg. Nein, er musste die Angelegenheit schon selbst regeln. Nach außen hin würde er weiterhin so tun, als wäre sein oberstes Ziel das Erbrechen des Siegels und das Hinausposaunen der Botschaft in alle Welt.
Punta-Rocca-Bergstation, 16.25 Uhr
»Wenn wir die Bahn um halb fünf nicht nehmen, müssen wir hier in diesem Notlager übernachten. Das mache ich nicht mit, Anselm.«
Plank hatte darauf genauso wenig Lust wie seine Kollegin. Ein Bett in einem Hotel, das hatten sie sich wirklich verdient nach der Woche. »Haben wir uns so verrechnet?«, sagte er. »Meinte er vielleicht doch eine andere Hütte? Ein paar Grad weiter, und du landest im Rifugio Punta Penia.«
»Du glaubst nicht im Ernst, dass ich da jetzt auf Verdacht hingehe. Das ist eine winzige Wellblechhütte. Ich habe unten auf der Wandertafel in der Talstation ein Foto davon gesehen. Zehn Bettenlager, stand da. Nein, Anselm, keine zehn Pferde bringen mich da rein. Wir steigen jetzt in diese verfluchte Gondel, fahren runter, suchen uns eine Pension mit einem Federbett und denken da noch mal nach.«
»Im Federbett? Wir zwei?«
»Träum weiter.«
Die Lautsprecherdurchsage forderte die Gäste final zum Einsteigen auf. Wer jetzt nicht nach unten fuhr, musste oben bleiben.
Sie stiegen die Treppen hinab und quetschten sich als Letzte in die Kabine. So konnten sie wenigstens durch das heruntergeschobene Fenster der Schiebetüre nach draußen schauen und sich von der Marmolata verabschieden. Als die Gondel sich in Bewegung setzte und aus der Station schwebte, kam die stählerne Freitreppe in ihr Blickfeld, die vom Gebäude auf den schneebedeckten Berg führte.
»Da!«, rief Stephanie Gärtner auf und deutete auf zwei Menschen, die auf
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