Neobooks - Transalp 9
geweiht hatte. In der Höhle fanden sich aber auch nach doppeltem Durchsuchen aller möglichen Verstecke – Gärtner war sogar so frech gewesen und hatte die handgearbeiteten Spitzendeckchen auf dem Marmoraltar rechts neben der Marienstatuette von der Unterseite betrachtet – keine Spindlerschen Hinweise.
»So, und nun? Warten, bis die bösen Buben kommen und uns an die Wäsche wollen?«, schloss sie die Durchsuchung ab.
»Ich glaube eigentlich gar nicht, dass die uns was wollen. Die wollen doch eher den Spindler. Und vielleicht haben wir den ja sogar überholt. Ich würde sagen, solange das Wetter einigermaßen gut ist, genießen wir die Aussicht auf der Panorama-Terrasse. Was sollen wir sonst tun? Vielleicht haben wir auch wieder mal zu zielgerichtet gehirnt. Komm, wir lassen die Blicke und die Gedanken schweifen. Dabei kommen wir sicher auf die Lösung.«
»Lösung wäre ja gar zu schön. Erst einmal brauchen wir die Frage …«, meinte Stephanie Gärtner, doch sie wusste, dass Plank recht hatte. Sie folgte ihm zum Aufzug, der sie zur Aussichtsplattform brachte. Die Sicht von dort war großartig, die warme Sommerluft hatte die Gewitterwolken des Vortages vertrieben, so dass sie die Dolomiten in ihrer ganzen Pracht bewundern konnten. Nur vereinzelt klammerten sich Wolkenreste an den Türmen und Felskaskaden fest.
»Welterbe der Unesco«, sagte Plank nur.
»Was für eine Anmaßung. Als wenn wir Menschen die wunderschönen Berge hier gebaut hätten«, schimpfte Stephanie Gärtner. »Wir haben es geschafft, die höchsten Gipfel mit solchen Bauten wie dem hier zu verschandeln. Oder mit zig Meter hohen Antennen, damit wir jederzeit zu Hause anrufen können, um so weltbewegende Dinge zu sagen wie ›Mutter, ich nehme die Fünf-Uhr-Maschine‹.«
»Schau halt einfach irgendwohin, wo es keine Antenne gibt. Manche sehen immer nur die Löcher, und andere den Käse.«
»Kaffee und Kuchen wären auch toll.«
»Ach so, Antennen sind Verschandelung, aber einen heißen Espresso und ein Sahneschnittchen wollen wir schon haben auf 3300 Metern über dem Meer.«
»Wenn wir nun schon mal da sein müssen … Wir sind ja im Dienst und machen das nicht zum Spaß. Und Dienst ohne Nachmittagskaffee … Langsam freu ich mich wieder aufs Büro.«
Cencenighe Agordino, 772 Meter, 9 Uhr
Einen Platten! Ausgerechnet hier einen Plattfuß. »Gerechte Strafe für den Diebstahl!«, musste Spindler trotz des Ärgers in sich hineinschmunzeln. Dabei hatte er sich schon in Belluno gesehen auf einen Vino rosso am Vormittag. Stattdessen also Cencenighe Agordino. Auch gut. Ob es hier einen Fahrradladen gab? Gab es nicht. Das hieß auf einen hilfsbereiten Radler warten. Es kamen durchaus andere Zweiradsportler vorbei um diese Tageszeit, doch alle hatten es eilig, die einen, weil sie den Schwung von oben nicht verlieren wollten, die anderen, weil sie verbissen gegen die Steigung ankämpften. Er hätte sie schon vom Sattel ziehen müssen. Nein, er brauchte jemanden, der hier anhielt und Flickzeug dabeihatte und eine Luftpumpe. Keine Selbstverständlichkeit.
Er setzte sich auf eine Bank unter Platanen, die Straße weit genug entfernt, dass ihn nicht jeder Vorbeifahrende gleich sehen konnte, aber doch nah genug, dass es ihm auffallen musste, wenn Radfahrer anhielten, die vor dem Anstieg Pause machen wollten.
Auf einmal hatte er, was er schon lange nicht mehr gehabt hatte – Zeit. Wobei sich für ihn die Einstellung zur Zeit komplett verwandelt hatte – für ihn war es ein Countdown, die Uhr tickte. Eine Stunde warten konnte bedeuten, dass die Hälfte seiner verbliebenen Lebenszeit verstrich, und das mit nichts als, ja, nichts. Diese Vorstellung schreckte ihn. Aus seinem Rucksack zog er das Paket im Wachstuch. Wie lange hatte er das Buch nicht mehr geöffnet? Es schien ihm eine Ewigkeit. Er musste es herumtragen und herumtragen, ohne es einmal in völliger Ruhe studieren zu können. Nun war da so etwas wie ein bisschen Ruhe. So hat er also dieses Buch auch in Händen gehabt. Es ekelte ihn, dass er das Lieblingsobjekt dieses Mordbrenners in Händen hielt.
Dieses ganze lichtscheue Gesindel hast du auf mich gehetzt. Aber ihr kriegt es nicht, nicht, solange ich lebe, und hoffentlich auch nicht danach!
Dann dachte er an den Mönch, der in einem mittelalterlichen Kloster diesen Text Buchstaben für Buchstaben geschrieben hatte, jahrelang und mit äußerster Sorgfalt. Denn Pergament war teuer, und Mönchsarbeit war billig. Mit klammen Fingern im Winter
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