Neongrüne Angst (German Edition)
nochmal, du mich nicht angerufen hast. Warum erfahre ich das alles erst jetzt?«
Es schien plötzlich kälter zu werden, und sie rieb sich die Arme.
Er wartete ihre Antwort gar nicht ab. Während er ihr so lange zugehört hatte, war eine Art Stau in ihm entstanden. Jetzt, da er einmal Worte gefunden hatte, löste eins das andere aus. Wie eine Lawine aus Worten prasselten seine Sätze auf sie runter, und sie streckte sich im Gras aus, als sei sie unter der Last begraben.
»Da schickt dir ein Typ Rosen, fordert dich auf, dich nachts mit ihm zu treffen, behauptet dann, er habe einen Riesenunfall verursacht, weil du nicht gekommen bist. Mensch, das heißt, der hat drei Leute umgebracht!«
Sie korrigierte ihn. »Vier.«
»Und dann schenkt er dir fünf Chips, und du tust, was er will? Begibst dich in diese unmögliche Situation, setzt dich dieser Gefahr aus, und ich weiß von alldem nichts? Mir erzählst du, deine Mutter würde am Rad drehen, und du müsstest zu Hause bleiben und wir könnten uns deswegen nicht treffen? Wenn hier einer am Rad dreht, dann doch wohl du!«
Er hatte im Grunde mit allem recht, aber vielleicht empfand sie seinen Gefühlsausbruch gerade deswegen wie ein Niederknüppeln. Als sei es noch nicht genug, setzte er noch einmal nach: »Und wieso, verdammt nochmal, gehst du nicht zur Polizei?«
Sie wischte sich eine Träne ab, die aus dem linken Auge tropfte und jetzt wie eine kleine Schnecke in ihre Ohrmuschel lief. Am liebsten wäre sie einfach aufgesprungen und weggerannt, aber sie fühlte sich plötzlich so schlapp, als könne sie nie wieder aufstehen.
»Weil die mir genauso wenig geglaubt hätten wie du«, sagte sie. »Ich hätte dagestanden wie eine dusselige Kuh.«
»Ja«, konterte Leon, »jetzt hingegen stehst du ja viel besser da …«
Sie spannte ihre Muskeln einmal an und löste sie wieder. Dann schaffte sie es. Sie sprang auf. Sie wollte nur noch weg von Leon, von diesem Ort, ja, am liebsten raus aus ihrem ganzen Leben.
Sie wusste nicht, wohin sie lief. Nach Hause zu ihrer Mutter wollte sie nicht. Einfach nur weg.
Erst als Leon sie rennen sah, wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte, und er nahm die Verfolgung auf. Er kam sich plötzlich vor wie der letzte Idiot.
Er sah nicht, wo sie war. Hier zwischen den Sträuchern und Büschen konnte sie in jede Richtung abgebogen sein.
Er brüllte: »Johanna! Johanna!«
Aber er erhielt keine Antwort.
Er drehte um und lief in die entgegengesetzte Richtung. Und dann sah er Johanna.
Er war nie der beste Sportler gewesen, aber heute brach er alle Rekorde. Mit einer Stimme, die er selbst nicht kannte, brüllte er noch einmal: »Johanna! Johanna! Bleib doch stehen!«
Aber so leicht war sie nicht davon zu überzeugen. Er musste schon schneller sein.
Als er fast auf ihrer Höhe war, kam sie an einem Paar vorbei, das auf einer Parkbank saß und, eingerahmt von gewaltigen Rhododendron- und Azaleensträuchern, kaum zu sehen war.
Leon griff nach Johannas Schulter, um sie festzuhalten. Sie lief weiter, so dass ihr Sweatshirt sich in die Länge zog. Sie ließ sich dadurch aber nicht stoppen. Es sah fast aus, als würde sie lieber ihr Sweatshirt verlieren und ohne weiterlaufen, als stehen zu bleiben.
»Hey«, kreischte das Girlie auf der Parkbank, »der tut der was, der Arsch! Lass sie in Ruhe, verdammt!«
Ihr Freund federte hoch. Er war ein aktiver Kampfsportler, Besitzer des blauen Gürtels im Judo. Außerdem hatte er zwei Jahre zuvor noch an seiner Karriere als Kickboxer gearbeitet, war aber nach einem üblen K.o. dann doch lieber in den Judoverein gegangen.
Er war sofort bereit einzugreifen und sah Leon praktisch schon am Boden liegen, wie er sich krümmte und um Gnade bettelte. Da wirbelte Johanna herum und brüllte Leon an: »Was soll ich mit einem Freund, der nicht zu mir hält und mir sowieso nicht glaubt?«
»Und was soll ich mit einer Freundin, die mich verscheißert, statt mir die Wahrheit zu sagen? Die mir misstraut und sich lieber mit irgendwelchen Arschtypen einlässt?«
Dann flogen sie sich plötzlich in die Arme, hielten sich ganz fest und drückten sich wie zwei Verliebte, die sich lange nicht gesehen haben und nun am Bahnhof zum ersten Mal wieder in die Arme nehmen können.
Der Judoka drehte sich um und ging wieder zu seiner Freundin zurück. Trotzdem hatte er bei ihr Punkte gemacht. Sie fand Jungs, die bereit waren einzugreifen, gut. Sie küsste ihn jetzt noch viel leidenschaftlicher als vorher. Allein dadurch,
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