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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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Gegenbekenntnis, das dem Bekenner vielleicht das Gefühl geben soll, er sei mit seinen Neigungen, Perversionen, mit seiner Verzweiflung nicht allein auf der Welt.
    All das geschieht auf Basis einer Software, die simpler kaum sein könnte. Grafisch sieht 4Chan aus wie ein Angebot aus der Frühzeit des WWW.Nutzer haben nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, mit der Plattform zu interagieren: Sie können Bilder hochladen und mit Kommentaren versehen oder die von anderen hochgeladenen Bilder kommentieren. 4Chan ist ein Image Board, eine Plattform zum Austausch von Bildern. Das Vorbild, nach dem der damals 15-jährige Christopher Poole alias »moot« die Plattform modellierte, war ein mittlerweile geschlossenes japanisches Bilderforum mit dem Schwerpunkt Anime und Manga, das »2Channel« hieß. Poole setzte 2003 eine auf den gleichen Prinzipien basierende Plattform auf und nannte sie, als Hommage an das Original, »4Chan«. Er wollte sich dort eigentlich nur mit anderen über seine Hobbys, Manga-Comics und Anime-Filme, austauschen. Während in manchen anderen 4Chan-Bereichen durchaus namentlich oder doch wenigstens unter Netzspitznamen miteinander kommuniziert wird, über Autos, Comics oder Videospiele, sind im ausdrücklich themenlosen Forum /b/ fast ausschließlich Teilnehmer mit dem automatisch vergebenen Standardnamen vertreten: »Anonymous«. Die Teilnehmer von /b/ nennen sich selbst, in typisch tabubrechender Selbstbeleidigung, »b-tards« – eine Wortschöpfung, die sich aus dem Namen des Forums und dem englischen Wort für geistig zurückgeblieben, »retarded«, zusammensetzt.
    4Chan erinnert an eine eingeschworene Clique von Teenagern. In solchen Freundeskreisen gibt es fast immer eine eigene Sprache, ständig wiederholte Worthülsen, eigene Running Gags und für Außenstehende unverständliche Querverweise und Bezüge. Sozialpsychologen betrachten das als elementaren Mechanismus der Gruppenbildung: Eigene Codes, eigene Zeichen grenzen eine Gruppe vom Außen ab und machen sie so nach innen stärker. Die digitale Clique 4Chan aber ist gewaltig, ihre Teilnehmer treten meist maskiert auf und sind über viele Nationen hinweg verteilt (auch wenn der Großteil aus den USA stammt). Mittlerweile gibt es international Dutzende Kopien, die alle nach dem gleichen Muster funktionieren. Die deutsche heißt »Krautchan«.
    All die Chan-Sites sind, ganz im Gegensatz zu weiten Teilen des übrigen WWW, äußerst flüchtig: Jeder der »Threads« genannten Diskussionsstränge verschwindet nach kurzer Zeit. Manche überdauern einige Stunden, andere existieren nur Minuten. Nichts von dem, was dort gepostet, veröffentlicht und geschrieben wird, ist von Dauer – außer jemand speichert einen Thread ab, bevor er dem Vergessen anheimfällt. Das ständige Löschen ist ungewöhnlich für eine Netzplattform, für 4Chan aber überlebenswichtig: Die Bilder, die von den Nutzern hochgeladen und ausgetauscht werden, sind in aller Regel urheberrechtlich geschützt, es werden dort also praktisch permanent Copyrightverstöße begangen. Die Tatsache, dass all das geschützte Material oft nur für Minuten online ist und dann wieder verschwindet, hat 4Chan bislang jedoch vor den Begehrlichkeiten der entsprechenden Branchen und ihrer juristischen Vertreter geschützt.
    Gleichzeitig funktioniert 4Chan als soziales System gerade wegen dieser Flüchtigkeit und der Möglichkeit, dort unerkannt zu kommunizieren. Fast unerkannt, denn die IP-Adressen der aktiven Teilnehmer werden gespeichert, zumindest kurzzeitig, und müssen, wenn ein entsprechender Gerichtsbeschluss vorliegt, den Sicherheitsbehörden der USA offengelegt werden. So wurde beispielsweise ein US-Student, der das E-Mail-Passwort der damaligen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin erriet und den Inhalt ihres Mail-Accounts anschließend der 4Chan-Meute zum Fraß vorwarf, schließlich gefasst und verurteilt – wohl weil er über seine IP-Adresse identifiziert wurde.
    Im Kern widerspricht das System allem, was man sonst über das Web 2.0 zu wissen glaubt: Persönlicher Reputationsgewinn ist praktisch nicht möglich, jeder Teilnehmer bleibt gesichts- und namenlos. Sich persönlich vorzustellen gilt sogar als Fauxpas. Anders als bei Wikipedia, bei Facebook oder in Spezialforen für Computerspieler, Audiophile oder Autofans kann hier nicht durch die Ansammlung von Beiträgen, durch nachweisbare Leistung an einem erkennbaren digitalen Ich gebastelt, virtueller Ruhm angesammelt werden. Doch

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