Nerd Attack
basierend jeweils auf vielen zehntausend internen Dokumenten des US-Militärs. Die Bulletins der Soldaten in den Kriegsgebieten zeichneten ein völlig neues Bild von den Einsätzen der Amerikaner und enthüllten bis dahin unbekannte Informationen über zivile Opfer, Folterungen und die tatsächlichen Erfolgsaussichten der Militäroperationen. Ende November folgte dann die Aktion, die für die bis zu diesem Zeitpunkt größte internationale Aufregung sorgte: WikiLeaks kündigte an, knapp 250 000 Depeschen aus dem diplomatischen Dienst der USA zugänglich zu machen. Tatsächlich publizierte die Plattform anschließend zunächst nur einen winzigen Bruchteil davon, in kleinen, täglich nachgereichten Häppchen. Freigegeben wurden zunächst nur jene Depeschen, die von den beteiligten Medien untersucht und um möglicherweise für Betroffene gefährliche Informationen bereinigt worden waren.
Die Auszüge aus den Diplomatendepeschen waren für das US-Außenamt dennoch überaus peinlich. Teils wenig schmeichelhafte Einschätzungen der Persönlichkeit diverser internationaler Spitzenpolitiker aus der Feder von US-Botschaftern wurden ebenso öffentlich wie die durchaus kritische Haltung diverser arabischer Staatschefs zu Irans Atomprogramm und eine Vielzahl von anderen pikanten Details über das Verhältnis der USA zu anderen Staaten. Die US-Regierung protestierte lautstark, betonte aber zugleich, dass ja gar nichts wirklich Brisantes an die Öffentlichkeit gelangt sei.
Gleichzeitig begann der offene Kampf gegen WikiLeaks. Sogenannte Distribuierte Denial-of-Service-Attacken (DDoS), bei denen Server mit automatisierten Anfragen Tausender anderer Rechner überlastet werden, legten die Website immer wieder lahm. Ein selbsternannter »patriotischer« US-Hacker namens »The Jester« (Hofnarr) behauptete, für die Angriffe verantwortlich zu sein, nachgewiesen jedoch wurde das nie. Weil man sich nun einmal im Reich der Verschwörer und Verschwörungen bewegte, schossen entsprechende Theorien ins Kraut: Im Netz diskutierten Nutzer darüber, ob die Attacken gegen WikiLeaks nicht doch vom US-Geheimdienst orchestriert worden waren. Kurz darauf folgte der nächste Schlag gegen die Enthüllungsplattform: Der US-Dienstleister EveryDNS entzog WikiLeaks Anfang Dezember 2010 die Domain WikiLeaks.org – die Seite war damit nicht mehr über die Eingabe des Seitennamens in die Browser-Adresszeile zu erreichen. EveryDNS begründete den Rauswurf mit den ständigen DDoS-Angriffen, die das eigene System einfach nicht mehr verkraften könne. Die schnell wachsende Zahl der WikiLeaks-Fans rund um den Globus jedoch interpretierte den Entzug der Domain als einen kriegerischen Akt.
Schlag auf Schlag ging es weiter: Der Online-Einzelhändler Amazon, bei dem man auch Server-Kapazitäten anmieten kann, setzte den zahlenden Kunden WikiLeaks vor die Tür. Der Online-Bezahldienst Paypal, die Kreditkartenunternehmen Mastercard und Visa entzogen der Plattform die Unterstützung: Spenden an WikiLeaks würden künftig nicht mehr verarbeitet, teilten die Unternehmen mit. In allen Fällen wurde vehement bestritten, dass man auf Druck von US-Behörden gehandelt habe, stets verwiesen die Unternehmen auf ihre Geschäftsbedingungen, gegen die WikiLeaks angeblich verstoßen habe. Schnell aber wurde ruchbar, dass der parteilose US-Senator Joe Lieberman, Vorsitzender des Senatsausschusses für Heimatschutz, in Sachen WikiLeaks direkt bei Amazon interveniert hatte. Lieberman kommentierte Amazons Entscheidung so: »Ich hätte mir gewünscht, dass Amazon diese Maßnahme früher ergreift angesichts der vorherigen Veröffentlichungen als vertraulich eingestufter Informationen durch WikiLeaks.«
Damit waren die USA mit ihrem Vorgehen gegen WikiLeaks noch längst nicht am Ende. Behördenmitarbeiter und sogar Studenten wurden davor gewarnt, sich die veröffentlichten Dokumente anzusehen. Beamte verstießen damit gegen Sicherheitsauflagen, Studenten könnten sich Jobaussichten in Regierungsbehörden verderben, hieß es zur Begründung. Selbst die Dokumente bei Twitter oder Facebook zu erwähnen könne Karrieren im Staatsdienst verhindern. Bei der US-Luftwaffe wurde es verboten, am Arbeitsplatz die Website der »New York Times« aufrufen. Das Verbot galt auch für »Le Monde«, den britischen »Guardian« oder SPIEGEL ONLINE. Wer es trotzdem versuchte, wurde mit der Nachricht beschieden: »Zugriff verweigert. Der Internetgebrauch wird aufgezeichnet und überwacht.«
Das Weiße
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