Nerd Attack
Anonymous. Diese amorphe, in keiner Organisationsstruktur verfasste, aber dennoch äußert langlebige und zuweilen furchteinflößend effektive Gruppe von Netzbewohnern war Beobachtern der kurzen Geschichte des Internets schon zuvor ein Begriff gewesen. Nun trat Anonymous, die wohl merkwürdigste Protestbewegung des 21. Jahrhunderts, an die Seite von WikiLeaks, mitten auf die Weltbühne und ins Visier westlicher Sicherheitsbehörden. Entstanden war sie in einem seltsamen Teenager-Internetforum namens 4Chan.
Die maskierten Unsichtbaren
Das Bilder-Bulletin-Board mit dem kryptischen Namen 4Chan ist für Nichteingeweihte ein verwirrender, manchmal erschreckender Ort. Ein Ort, an dem Menschen in einer Geheimsprache miteinander sprechen, an dem keinerlei Tabus zu gelten scheinen, ja das Brechen beliebiger Tabus sogar zum guten Ton gehört. 4Chan ist das soziale Internet in seiner radikal ungefilterten Form. Oft abstoßend, extrem faszinierend und für Außenstehende nahezu unverständlich. Anonym, drastisch, brutal, blitzschnell und fast völlig unkontrolliert. 4Chan ist das Anti-Facebook.
Wäre die Plattform ein realer Ort, müsste man ihn sich etwa so vorstellen: Tausende von Menschen, von denen die meisten Masken tragen und manche ziemlich betrunken sind, haben sich versammelt. Sie reden durcheinander, sie zeigen einander Fotos, sie beschimpfen sich auf wüste und obszöne Weise, sie brüllen rassistische, sexistische, homophobe, antisemitische Flüche in den Raum. Sie verabreden sich in kleinen Gruppen zu irgendwelchen Streichen, verschwinden kurz und tauchen kurz darauf wieder auf, immer noch maskiert, um sich über das eben Geschehene zu unterhalten. Allerdings ohne zu wissen, ob die neuen Gesprächspartner tatsächlich die gleichen sind wie die von vorhin. Manchmal führt ein einzelner Maskenträger ein längeres Stück auf oder trägt einen Text vor, um ihn herum sammelt sich schnell ein Kreis mit anderen Maskierten, die Kommentare oder Beschimpfungen zur Darbietung beitragen. Manchmal tut einer der Maskierten so, als sei er eine ganze Gruppe, spricht aber in Wahrheit mit sich selbst. Was nicht zu erkennen ist, weil er während des Gesprächs ununterbrochen blitzschnell den Platz wechselt. Manchmal werden die von einem Kreis überwiegend schweigender Zuhörer umgebenen Darbietungen zu improvisierten Gruppen-Performances – einer hält ein lustiges Bild hoch, ein anderer gibt einen lustigen Kommentar dazu ab, ein weiterer präsentiert eine veränderte oder mit einer balkendicken Kommentarzeile versehene neue Version des Ursprungsbildes, um den Witz noch weiterzutreiben, jemand anderes springt hinzu und hält ein scheinbar völlig deplatziertes weiteres Bild hoch, was zu großem Gelächter führt, weil wieder einmal einer von Hunderten Insiderwitzen in ansprechender Weise in die Konversation eingepasst wurde. Hin und wieder entstehen dabei tatsächlich komische kleine Kunstwerke, die dann von den Zuschauern oder Teilnehmern nach draußen weitergereicht oder konserviert und bei Bedarf später wieder hervorgeholt werden. Um daran zu erinnern, wie witzig, schöpferisch, brillant es hier doch manchmal zugeht.
In vielen dieser Zirkel, die ständig entstehen, vergehen, neu arrangiert werden oder sich von einer Sekunde zur anderen in Luft auflösen, spricht man über konkrete Themen: schnelle Autos etwa oder Schusswaffen, japanische Animationsfilme, Essen und Trinken, Comics, Spielzeugfiguren oder Pornografie. In anderen geht es ostentativ um rein gar nichts oder ausschließlich um möglichst kunstvolle gegenseitige Beschimpfungen. Gelegentlich tritt einer vor und gibt ein Bekenntnis ab: zu abseitigen sexuellen Neigungen, zu einer abscheulichen Tat, zu geheimen Wünschen und Fantasien, von denen man im realen Leben niemals jemandem je erzählen würde. Pädophile gestehen anonym ihre Neigung ein, männliche Teenager bekennen sich zu sexuellen Gefühlen für die eigene Schwester. Geschlechtskrankheiten, Mordfantasien, unfassbar peinliche Erlebnisse werden en Detail niedergeschrieben – ob sie echt oder ausgedacht sind, ist nie zu erkennen. In der Regel treffen auch die Bekenner nicht auf Verständnis, sondern nur auf Beschimpfungen. Oder unverhohlene, wenn auch in der Geheimsprache von 4Chan verklausulierte Aufforderungen, sich doch bitte schön das Leben zu nehmen und das auf Video zu dokumentieren. Manchmal aber gibt es auch Momente augenscheinlich echter Sympathie, gut gemeinte Ratschläge oder ein
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