Nerd Attack
Haus hatte schon zuvor formal darauf hingewiesen, dass alle Bundesbeschäftigten ohne entsprechende Sicherheitseinstufung Dokumente, die als geheim eingestuft seien, nicht lesen dürften. Auch nicht von zu Hause, von ihren privaten Computern aus.
Im Netz wuchs die Wut über das, was sich da vor den Augen der Weltöffentlichkeit vollzog: Eine Organisation, gegen deren Mitglieder in den USA nicht einmal ein Haftbefehl vorlag, geschweige denn eine Anklage, sollte hier augenscheinlich auf technischem und finanziellem Weg ausgeschaltet werden. Das »Land der Freien«, dessen erster Verfassungszusatz »Redefreiheit und Pressefreiheit« garantiert, war unter bestimmten Umständen augenscheinlich bereit, solche Rechte vorübergehend für zweitrangig zu erklären. Das schien all jenen recht zu geben, die vor der Einrichtung einer zensurtauglichen Infrastruktur gewarnt hatten – hätten sich Internetsperren, wie sie viele gegen Kinderpornografie befürworteten, nicht auch gegen eine Plattform wie WikiLeaks einsetzen lassen? Plötzlich schien die Freiheit des Netzes sogar in dem Land zur Disposition zu stehen, in dem sie erfunden worden war.
Dabei ist das Veröffentlichen von Informationen aus derartigen Quellen in den USA nicht illegal, nur deren Diebstahl. Die mutmaßliche Quelle der Diplomatendepeschen, der Dokumente über die Kriege im Irak und Afghanistan wie auch des »Collateral Murder«-Videos, der 23-jährige Militäranalyst Bradley Manning, saß jedoch längst in Haft. In den USA machte man sich daran, eine juristische Hilfskonstruktion zu entwickeln, um auch Julian Assange und seine Mitstreiter noch vor Gericht stellen zu können.
Fast zur gleichen Zeit stellte sich Assange in London der Polizei. Nicht etwa wegen der Veröffentlichungen, sondern wegen eines in Schweden von zwei Frauen gegen ihn erhobenen Vorwurfs sexueller Übergriffe. Assange selbst insinuierte anfangs, die Anklage in Schweden sei Teil einer Kampagne gegen ihn. Tatsächlich aber scheinen die Vorwürfe gegen ihn von der Causa WikiLeaks vollkommen unabhängig zu sein. Was nichts daran änderte, dass viele in der wachsenden Gruppe der Unterstützer der Plattform das juristische Vorgehen gegen den WikiLeaks-Gründer als Teil eines Komplotts betrachteten und für Assange auf die Straße gingen. John Perry Barlow persönlich mischte sich ein und rief via Twitter offen zum Widerstand auf: »Der erste ernsthafte Informationskrieg hat begonnen. Das Schlachtfeld ist WikiLeaks. Ihr seid die Truppen.«
Zur Erinnerung: Als Barlow gemeinsam mit dem Software-Multimillionär Mitch Kapor die Electronic Frontier Foundation (EFF) gründete, die heute wohl einflussreichste Bürgerrechtsorganisation der digitalen Welt, ging es um einen im Grundsatz ähnlichen Konflikt: Hacker hatten sich vermeintlich geheime Dokumente eines US-Telekom-Riesen verschafft und sie in digitaler Form verfügbar gemacht. Kapor und Barlow sahen die Informationsfreiheit und das freie Streben nach Wissen in Gefahr. Die EFF bezahlte Anwälte, die die Hacker vor Gericht verteidigten – und gewannen. Für Barlow gab es zwischen dem Fall WikiLeaks und dem »Hacker Crackdown« der frühen Neunziger in den USA klare Parallelen: Hier wie dort ging es schließlich darum, dass mächtige Organisationen mit aller Macht versuchten, Information zu unterdrücken, Herrschaftswissen zu bewahren, und zwar mit großer Rücksichtslosigkeit. Barlows alte »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace« von 1996 klang plötzlich wieder brandaktuell: »Regierungen der industrialisierten Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich euch, die ihr aus der Vergangenheit stammt, uns in Frieden zu lassen. Ihr seid unter uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, habt ihr keine Macht.«
Die Reaktion der weltweit verteilten Unterstützer von WikiLeaks auf die wenig subtilen Versuche, die Plattform kaltzustellen, ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem WikiLeaks eine Anleitung zum Aufsetzen eines Spiegel-Servers veröffentlicht hatte, mit deren Hilfe man das gesamte aktuelle Angebot sehr einfach im eigenen Webspace als Kopie vorhalten konnte, i schossen die WikiLeaks-»Mirror Sites« wie Pilze aus dem Boden. Binnen weniger Stunden gab es Hunderte Kopien der Seite, wenige Tage später bereits weit über tausend. Parallel riefen Aktivisten in aller Welt zum Gegenangriff auf.
Vor allem ein Name tauchte dabei immer wieder auf:
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