Nerd Attack
in England, in Skandinavien, den Niederlanden, Belgien und natürlich den USA, in Israel, Brasilien, Australien – überall auf der Welt gab es Jugendliche, die neue Spiele für den C64 wollten. Sogar einige osteuropäische und russische Gruppen entstanden, auch wenn die in der Regel auf die Mildtätigkeit von Bekannten im Westen und die Schludrigkeit von Zöllnern und Zensoren vertrauen mussten.
Wer ein Spiel knackte und in Umlauf brachte, erwarb damit zunächst vor allem Sozialprestige im eigenen Umfeld – und eine Art virtuellen Ruhm: Die Spitznamen der Cracker, die Namen der Cracker-Gruppen waren bekannt, viele weit über die Grenzen des eigenen Heimatlands hinaus. »Es ging darum, der Erste zu sein, der neue Spiele hatte, um das Exklusive«, erinnert sich Teut Weidemann. Er gehörte Anfang der achtziger Jahre zur Münchner Cracker-Szene. Im eigenen Bekanntenkreis, in der Schule und anderswo habe man »Bewunderung« erregen können, wenn man zu einer der Elitetruppen gehörte: »Es war schon ein gutes Gefühl, wenn da hundert hechelnde Jugendliche standen, die sehnlichst haben wollten, was man heranschaffte.« Mädchen beeindrucken aber, gibt Weidemann zu, konnte man damit kaum.
Die Berühmtheit der Cracker über das direkte Umfeld hinaus war eine anonyme oder vielmehr pseudonyme: Die Masse der C64-Besitzer, die so weit von den scheinbar unerschöpflichen Quellen kostenloser Spiele-Software entfernt waren wie meine Freunde und ich, kannte nur die seltsamen Decknamen und Akronyme, mit denen sich die Gruppen und ihre Mitglieder schmückten. Das »Dynamic Duo« bestand aus dem »Executor« und »The Dark Angle«, der »German Cracking Service« (GCS) aus »CAHO«, »MAM«, »Snoopy« und »UGS«. Die Spitznamen sollten einerseits cool und geheimnisvoll klingen, andererseits einen gewissen Schutz vor Verfolgung bieten. Viele bestanden nur aus drei Buchstaben, denn so viele konnte man üblicherweise in die Highscore-Listen von Spielen eintragen.
In der Szene in den USA ging schon frühzeitig das Gerücht um, manche Mailbox-Betreiber, die Bundespolizei oder gar die Geheimdienste überwachten den Datenverkehr und durchsuchten ihn automatisiert nach bestimmten Schlüsselworten. Man gewöhnte sich, um solcher Schnüffel-Software keine Chance zu lassen, neue Schreibweisen für häufig gebrauchte Begriffe an. Buchstaben wurden durch andere Buchstaben oder gleich durch Ziffern ersetzt: Aus Hacker wurde »Haxxor«, »H4xor« oder »h4xX02«, gecrackte Software wurde »Warez« genannt, aus Porno wurde Pr0n, und die selbst ernannten Mitglieder der »Elite« der neuen Subkultur nannten sich selbst »leet«, was wie »lieht« gesprochen und oft »1337« geschrieben wurde, weil die Ziffernfolge 1337 eine gewisse Ähnlichkeit mit den Buchstaben kleines L, E (umgedreht) und T hat. Das sogenannte Leetspeak existiert weiter. Besonders unter jungen Computerspielern, aber auch unter den Crackern und Hackern von heute sind die verwirrenden Schreibweisen noch immer gängig – auch wenn längst nichts Geheimnisvolles mehr daran ist. Die meisten derjenigen, die sich heute für »1337« halten, dürften allerdings keine Ahnung haben, woher die seltsamen Bräuche kommen, deren sie sich da bedienen.
Von der Anonymitätskultur von damals lässt sich eine direkte Entwicklungslinie ziehen zu den Privatsphäredebatten der Gegenwart: Wer sich damals digital exponierte, tat das lieber in einer Form, die keine unmittelbaren Rückschlüsse auf seine Person erlaubte. In den Debatten der Netzgemeinde von heute wird die Möglichkeit, anonym zu kommunizieren, noch immer als wesentlicher, unantastbarer Wert gehandelt. Die Wurzeln dafür liegen zum einen in der Bürgerrechtsbewegung der Achtziger, die etwa die Volkszählung ablehnte, und zum anderen in den nicht völlig unbegründeten Verfolgungsängsten der Cracker und Hacker.
Kommuniziert wurde innerhalb der Szene auch über auf illegalem Weg ergaunerte kostenlose Telefongespräche, über Modems und schließlich die ersten »Mailbox« oder »BBS« genannten Online-Angebote. Die Szene in den USA war eine andere als in Deutschland, dort vertrauten die Spieletauscher schon früh auf eine selbst gebastelte Vorform des Internets. Später entstanden internationale Allianzen – die Cracker sorgten mit nun definitiv illegalen Methoden dafür, dass ihnen transatlantische Datenverbindungen zur Verfügung standen, Jahre bevor Tim Berners-Lee Ende der Achtziger am Teilchenbeschleuniger Cern in Genf das World
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