Nerd Attack
fünf vollständige Alben in hervorragender Qualität. Bis heute habe ich sie mir nicht komplett angehört.
Es wäre ja auch eine Sünde gewesen, sich nicht alles zu holen, was da draußen auch nur halbwegs interessant aussah. Napster war wie Pilzesammeln in einem Wald, in dem es immer noch einen weiteren Baum gibt, hinter dem wieder eine leuchtend gelbe Kolonie Pfifferlinge steht, an der man nicht vorbeigehen kann, ohne sie einzusammeln. Viele Napster-Nutzer horten seit jenen Tagen CDs mit nie gehörten Sammlungen von MP3s.
Napster bot einen weiteren unschätzbaren Vorteil, der es vom reinen Tauschdienst in eine Art musikbasiertes Social Network verwandelte: Sofern ein Nutzer es nicht explizit durch eine Menüeinstellung untersagt hatte, konnte man mit jedem Teilnehmer spontane Instant-Messaging-Unterhaltungen beginnen. Eine typische Napster-Konversation verlief in etwa so (in der Regel auf Englisch): »Das ist aber eine sehr schöne Sammlung, die du da hast, die ganzen Elektro-Platten aus England zum Beispiel. Kennst du Monolake?« Musikfans sind bekanntlich notorisch mitteilsam, um nicht zu sagen missionarisch, was die eigenen Vorlieben angeht. Der Austausch mit anderen, die, ausweislich ihrer öffentlich sichtbaren Plattensammlung, offenbar einen dem eigenen ähnlichen, also guten Geschmack haben, gehört zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Viele einsame Jungs, die auf Partys nie tanzen, sich aber mit Musik besser auskennen als all die Banausen, die auf der Tanzfläche herumhüpfen, haben vor dem CD-Regal neue Freunde gefunden. Mit Napster waren solche Gespräche nun sogar auf globaler Ebene möglich.
Ich erinnere mich an ein faszinierendes Gespräch mit einem sehr freundlichen Isländer, der mir begeistert berichtete, er habe die für ihre ätherische Gletscher-und-Feen-Musik kultisch verehrte Band Sigur Ros – deren Album wir beide auf unseren Festplatten beherbergten – erst gestern Abend live spielen gesehen, in einer ehemaligen, nur von Kerzen erleuchteten Kirche in Reykjavík. Ich war fasziniert und natürlich neidisch. Wir fühlten uns als Teil einer globalen Gemeinde von Menschen, die Kennerschaft und Geschmack bewiesen. Für ein paar Minuten sorgte Napster für ein unsichtbares Band, das quer über den Atlantik zwei Wildfremde miteinander verband, die sich, hätte es die Möglichkeit gegeben, noch am gleichen Abend auf ein Bier getroffen hätten. So aber erfuhr ich nicht einmal den wirklichen Namen meines Gesprächspartners aus Island. Zur unausgesprochenen Etikette von Napster gehörte es, diesen erfreulichen Zufallsbegegnungen nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Männer, die sich am späten Abend in einer Hotelbar kennenlernen und einander in viel zu kurzer Zeit viel zu Persönliches erzählen, verzichten schließlich auch darauf, anschließend ihre Adressen auszutauschen.
Shawn Fanning hatte beiläufig, fast aus Versehen, die erste globale Musik-Community geschaffen. Heute kopieren zahlreiche Dienste dieses Modell: die innerhalb der Social Networks Facebook und MySpace angesiedelte Empfehlungsplattform iLike zum Beispiel, das Community-getriebene Internetradio LastFM und seit August 2010 auch Apples Musiknetzwerk Ping. Überall sollen Plattenkäufer und Musikfans in aller Welt einander gegenseitig auf ihre neuesten Entdeckungen aufmerksam machen, inzwischen natürlich mit kommerziellem Hintergrund. Erfunden aber hat dieses Prinzip die Napster-Gemeinde.
Fannings Erfindung transferierte nicht nur gewaltige Datenmengen um den Globus und stellte für viele seiner Nutzer ein wohliges Gefühl von internationaler Gemeinschaft her. Sie sorgte, zumindest in Deutschland, fast im Alleingang für den Durchbruch des Breitband-Internets, auch wenn das kaum jemand zugeben mag. Wie oben erwähnt: Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 170 000 DSL-Anschlüsse. Bereits 2001 waren es 1,9 Millionen. Die Anzahl hatte sich binnen eines einzigen Jahres verelffacht – dank der Möglichkeit, plötzlich kostenlos und in unbegrenzter Menge an Musikdateien zu kommen. Während an der Börse die Kurse der Internet-Aktien ins Bodenlose fielen, stieg in atemberaubendem Tempo die Zahl derer, die eine schnelle, stabile Internetverbindung wollten und dann auch bekamen.
Mit dem rasanten Wachstum fielen die Preise: Die Kosten für Internetzugänge sanken von 2000 bis 2001 um über 30 Prozent. Bis 2004 verdoppelte sich die Zahl der Anschlüsse erneut, auf 4,4 Millionen. Und das unmittelbar nach dem Platzen der Dotcom-Blase und
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