Nerd Attack
Anlagestrategien und Renditeerwartungen gefragt hatte, trampelte nun ebenso genüsslich auf den zerstörten Hoffnungen all der geprellten Kleinanleger und Neu-Unternehmer herum: »Deutsche Börse schließt den Neuen Markt; wir sagen mit Tränen in den Augen: Mach es gut, Neuer Markt – du hast uns viel gegeben und noch mehr genommen; können mich die Aktionäre von EM.TV verstehen? Haben die überhaupt noch einen Fernseher?« Angst vor juristischen Konsequenzen solcher womöglich börsenrelevanter Witze habe er nicht mehr, sagte Schmidt im März 2003: »Wissen Sie, ich könnte ja nicht so locker über all diese Läden herziehen – aber die haben alle gar kein Geld mehr, um mich zu verklagen.«
Börsenchef Werner G. Seifert hatte schon in seiner Festrede zum fünften Geburtstag des Neuen Marktes im März 2002 gesagt, »die neue moralische Dimension« des Geschehenen liege darin, »dass Investoren und Arbeitnehmer dazu verführt wurden, Risiken zu akzeptieren, die sie nicht verstanden haben und die sie teilweise nicht wissentlich akzeptieren mussten.« Diese Formulierung kommt einem heute, nach der durch Immobilienspekulationen ausgelösten Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008, erstaunlich bekannt vor. Wer jedoch nach dem New-Economy-Crash auf mehr Vernunft an den Finanzmärkten gehofft hatte, wurde bitter enttäuscht.
Ich selbst habe durch das Platzen der Dotcom-Blase keinen Pfennig verloren. Ich hatte damals weder Geld noch Interesse daran, an der Börse zu spekulieren. Viele, die das Internet regelmäßig nutzten und es kannten, betrachteten die Entwicklung mit Kopfschütteln und einem gewissen Erstaunen, sie hielten sich aus dem Kaufrausch, der auch Kleinanleger ergriffen hatte, weitgehend heraus. Tatsächlich besaßen gerade die gut situierten Deutschen, die in den Jahren 1999 und 2000 so kräftig in die »New Economy« investierten, keine oder wenig Erfahrung mit dem Internet, das ihnen nun als Heilsbringer und Quelle uneingeschränkten Wachstums präsentiert wurde. Trotzdem glaubten sie, seine wirtschaftlichen Auswirkungen beurteilen oder jedenfalls auf sie wetten zu können.
Im Jahr 2000 gab es hierzulande der Bundesnetzagentur zufolge erst 170 000 Breitband-Internetverbindungen. Die Zahl der Haushalte mit irgendeiner Art von Internetanschluss lag unter 15 Prozent. Am häufigsten nutzten das Internet Menschen zwischen 20 und 29 Jahren – die Angehörigen der Generation C64. Auf Platz zwei und drei landeten die Altersgruppen zwischen 14 und 19 und die zwischen 30 und 39. Nur gut 30 Prozent der über 40-Jährigen gaben in der ARD/ZDF-Online-Studie an, zumindest gelegentlich im Internet unterwegs zu sein. Unter den Älteren war der Anteil noch geringer. Mit anderen Worten: Diejenigen, die damals Geld hatten, um es in Aktien zu investieren, diejenigen, die politische oder unternehmensstrategische Entscheidungen trafen, gehörten meist gar nicht zum Kreis der Nutzer der Technologie, in die so viele Hoffnungen gesetzt wurden. Sie hatten schlicht keine Ahnung. Sie glaubten an etwas, das sie nicht verstanden. Als dieser Glaube dann mit empfindlichen Verlusten bestraft wurde, hinterließ das Spuren, die bis heute nachwirken. Ein nicht unwesentlicher Teil derer, die in Deutschland heute das Sagen haben, erlebte den ersten Kontakt mit dem Internet als persönliche, noch dazu finanziell äußerst schmerzhafte Kränkung. Gerade von Angehörigen dieser Gruppe hört man heute schon mal hämische Vorhersagen, auch der nun tatsächlich stattfindende Siegeszug des Netzes werde sich als Blase erweisen. Die gebrannten Kinder hoffen noch immer, dass das Feuer endlich ausgeht.
Der Geschenkemarktplatz
Für die Jüngeren, die nicht ans Internet glauben mussten, weil sie längst selbstverständlich darin unterwegs waren, verlief diese Phase wesentlich ruhiger. Das Netz war, zumindest für Leute meiner Altersgruppe, die eine Universität besucht hatten, bereits fast so sehr Alltag, wie es das für meinen amerikanischen Freund Ezra Jahre vorher gewesen war. Nach der ARD/ZDF-Online-Studie für das Jahr 2000 nutzen es 85 von 100 Hochschulabsolventen. Unter den Hauptschulabgängern dagegen waren es nur 8 von 100. Der digitale Graben trennte nicht nur die Generationen, sondern auch die Bildungsschichten. Für uns aber, die wir in den Computerräumen und Glasfasernetzen der Universitäten gelernt hatten, wie nützlich E-Mail, Suchmaschinen und Online-Datenbanken waren, hatte sich das Netz bereits als Werkzeug etabliert. Ich
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