Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
Vom Netzwerk:
auch den eigentlichen Grund für die Umsatzrückgänge der Musikindustrie. Selbstmord sei das nicht, sagte er in dem Gespräch, »es hat eher was vom langsam zu Tode Trinken«.
    Schon zuvor, im Juni 2003, hatte der Branchenverband »Recording Industry Association of America« (RIAA) die nächste Eskalationsstufe im Kampf gegen die eigene Kundschaft eingeleitet. Die RIAA gab bekannt, man werde nun beginnen, Daten für Prozesse gegen Tauschbörsennutzer zu sammeln. Verbandspräsident Cary Sherman erklärte: »Diese Aktivität ist illegal, man ist dabei nicht anonym, und sich darauf einzulassen kann reale Konsequenzen haben.«
    Die Electronic Frontier Foundation, deren Gründer John Perry Barlow schon in den frühen Neunzigern eine Reform der Urheberrechts angemahnt hatte, diagnostizierte bei den »Dinosauriern der Branche« vollständigen Realitätsverlust. Ein Anwalt der EFF erklärte, über 57 Millionen Amerikaner benutzten derzeit Filesharing-Software, »das sind mehr Menschen, als für Präsident Bush gestimmt haben«. Wolle man die wirklich alle vor Gericht zerren? Studien zeigten zudem, dass Tauschbörsennutzer im Schnitt nicht weniger, sondern mehr CDs kauften als andere Konsumenten. Sie waren Fans, die Kundschaft der Branche, keine skrupellosen Ladendiebe. Ein Analyst des Beratungsunternehmens Forrester Research hatte schon im September 2000 festgestellt: »Das Bedürfnis, Musik zu sammeln und flexibel zu organisieren, persönliche Playlisten und CDs zu erstellen und sein Lieblingslied Tausende von Malen abzuspielen, macht einen Großteil der Anziehungskraft von Napster aus.« Die Plattenfirmen müssten »überzeugende Dienste anbieten mit den Inhalten, die die Konsumenten wollen, in den Formaten, die sie wollen, mit den Geschäftsmodellen, die sie wollen«.
    Hätten sie es doch beherzigt. Stattdessen gingen die Branchenriesen juristisch gegen eben diese vernachlässigte Kundschaft vor. Prozesse gegen ahnungslose Großmütter, deren Rechner von den Enkeln zum Download missbraucht worden waren, gegen alleinerziehende Mütter und mittellose Studenten, mit astronomischen Schadensersatzsummen für jedes einzelne zum Download angebotene Stück: Die Musikbranche verwandelte sich in der öffentlichen Wahrnehmung innerhalb weniger Jahre in ein feindseliges Monstrum, eine Horde rücksichtsloser, gewinnsüchtiger alter Männer. Ein PR-Gau folgte auf den nächsten. Und ein konstruktives Gegenangebot zu den illegalen Tauschbörsen fehlte noch immer. Damit gab die Musikindustrie den Teilnehmern der Tauschbörsen eine bequeme Ausrede an die Hand: Wer einerseits so viel Müll produziert und andererseits bis heute unnachgiebig gegen Musikfans vorgeht, hat es einfach nicht besser verdient, als dass man ihn bestiehlt.
    Der Rechtsanwalt und Urherberrechtsexperte Gerd Hansen attestierte der Musikbranche in einem Beitrag für einen Sammelband der Heinrich-Böll-Stiftung eine indirekte Mitschuld am Verfall der Sitten in Sachen Copyright: »Zwang allein wird den grassierenden Akzeptanzverlust des Urheberrechts jedenfalls nicht abwenden können. Die Wahrscheinlichkeit, dass Recht befolgt und als legitim begriffen wird, steigt eher mit der zu fördernden Einsicht seiner Adressaten, dass dieses Recht notwendig, sachgerecht und fair ist.«
    Profit aus der bornierten Haltung der Musikverleger zog schließlich ein Anbieter von außerhalb: Apple. Der Verkauf von iPods (die selbstverständlich nicht zuletzt mit MP3s aus Tauschbörsen gefüllt wurden) hatte dem Unternehmen zu diesem Zeitpunkt bereits substanzielle Umsätze beschert. Im April 2003 eröffnete Apple seinen iTunes Store. Hier bekam man Stücke aller großen Anbieter, und Abrechnung, Download und die Übertragung auf Rechner und MP3-Player waren einfach und komfortabel. ITunes begann innerhalb kürzester Zeit zu boomen. Bis heute ist es einsamer Marktführer in Sachen digitale Musik-Downloads. Die Musikbranche verbindet mit Apple eine Art Hassliebe: Einerseits hat der Konzern von Steve Jobs es übernommen, den desaströsen Strategiemangel der Plattenfirmen auszugleichen und ein digitales Vertriebsmodell zu installieren, das tatsächlich funktioniert. Andererseits diktiert seither Steve Jobs den Branchengiganten die Bedingungen: standardisierte Preise, 99 Cent pro Song, 9,90 Dollar pro Album, keine Sonderangebote, keine Preisaufschläge für Neuerscheinungen. Außerdem verdient Apple natürlich an jedem verkauften Song mit. Hätte die Musikbranche sich rechtzeitig und ohne fremde

Weitere Kostenlose Bücher