Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Hoffnungslosigkeit versinken.
Yonathan atmete tief ein, um die Fesseln zu sprengen, die sein Herz einzuengen schienen. All das musste verhindert werden! Vielleicht konnte Din-Mikkith ihm helfen. »Kennst du einen sicheren Weg aus dem Verborgenen Land heraus? Ich muss Goel unbedingt den Stab Haschevet übergeben, damit der neue Richter sein Amt antreten kann. Sonst ist alles verloren.«
»Ich kenne ein Weg. Doch es ist schwer und gefährlich. Ihr Menschen seid immer so ungeduldig. Komme erst einmal zu Kräften. Dann können wir darüber sprechen.«
Yonathan akzeptierte diesen Vorschlag nur widerwillig. Doch er sah ein, dass Din-Mikkith Recht hatte. Selbst wenn er den Weg aus dem Verborgenen Land bewältigen würde, wäre der Garten der Weisheit noch lange nicht erreicht. Seine Reise hatte eigentlich erst begonnen und er benötigte viel Kraft, um sie auch zu Ende zu bringen.
Yonathan erholte sich zusehends. Aber ihn beschäftigte immer noch die Frage, ob seine Handlungsweise im Lager Sethurs mit der Gabe der vollkommenen Liebe, die Benel an ihm entdeckt haben wollte, vereinbar war.
Eines frühen Morgens – Yomi schlief noch – scheuchte ihn Din-Mikkith aus seinen trüben Gedanken auf und nahm ihn mit auf einen Streifzug durch den Wald. Am Rande eines Wasserlaufes bat Din-Mikkith seinen jungen Begleiter still zu sein. Zuerst konnte Yonathan nicht erkennen warum, aber der Behmisch zog ihn am Arm zu einer Blume von seltener Schönheit. Sie war zartrot und über und über mit gelben Flecken bedeckt.
»Was ist mit der Pflanze?«, wollte Yonathan wissen. »Ist sie geräuschempfindlich?«
Din-Mikkith kicherte. »Nein, das nicht gerade. Aber schau doch mal genau hin.«
Yonathan näherte sich vorsichtig der Blume und sah voller Staunen einen fliegenden Smaragd, der auf ihrem Rand herumturnte – so jedenfalls sahen die Anstrengungen des kleinen Insekts aus, das sich emsig der wunderschönen Blume widmete.
»Ich habe so ein Tier noch nie gesehen«, flüsterte Yonathan. »Es sieht aus wie eine Biene.«
»Da liegst du gar nicht so schlecht, mein Kleines. Ihr nennt es ›Prachtbiene‹, glaube ich. Ich nenne es ›Virikith‹. In eurer Sprache bedeutet das ›Fliegender Smaragd‹.«
»So hätte ich es auch genannt«, rief Yonathan erstaunt – und lauter, als er gewollt hatte. Erschrocken schaute er zu der Prachtbiene, die jedoch viel zu beschäftigt war, um sich ablenken zu lassen. Mit gesenkter Stimme fuhr er fort: »Du sagtest neulich, dass ich auch vielleicht die Gabe hätte mit den Lebenden Dingen zu ›sprechen‹. Kann es sein, dass sie einem ihren Namen verraten?«
Din-Mikkith lächelte wie ein Lehrer, der gerade eine klugeÄußerung seines Schülers vernommen hatte. »Das ist gar nicht so falsch, mein Kleines. Nur sind die Lebenden Dinge – von Behmischen, Menschen und einigen anderen Wesen einmal abgesehen – nicht in der Lage sich selber Namen zu geben und sich auch noch vorzustellen.« Der Behmisch genoss amüsiert diese Vorstellung und lachte leise vor sich hin, zu Yonathans Befremden. »Aber wenn du die ›Sprache‹ der Lebenden Dinge verstehst, dann kannst du ihr wahres Wesen erkennen, das durch einen bestimmten Namen zum Ausdruck kommt. Und diesen Namen gibst du dann dem Ding.« Er schaute Yonathan einen Augenblick lang schweigend an. »Wir beide haben diesem Tier den gleichen Namen gegeben, weil wir finden, dass er sein wahres Wesen widerspiegelt.«
Die Vorstellung, den wirklichen Charakter eines Geschöpfes erkennen zu können, faszinierte und verunsicherte Yonathan. Angewandt auf Pflanzen und Tiere war dies sicherlich recht reizvoll. Doch was die persönlichen Angelegenheiten von Menschen und anderen vernunftbegabten Wesen Neschans betraf, hatte er gelernt höflich und zurückhaltend zu sein und sich nicht einzumischen. Irgendwie empfand er das Durchschauen einer Maske, hinter der sich jemand versteckte, als Einmischung. Nicht jeder hatte niedere Beweggründe, wenn er sein wahres Ich verbarg. Manchen plagten Kummer oder Sorgen und er wollte seine Mitmenschen damit nicht belasten. Die durch das Koach bewirkte Fähigkeit, Empfindungen und Absichten anderer Wesen zu erkennen, machte vor solchen Mauern der Täuschung nicht Halt. Es drang hindurch, als bestünden sie aus Glas. Allerdings war sich Yonathan nicht sicher, ob er diese Fähigkeit jemals würde kontrollieren können. Manchmal signalisierte sie ihm Eindrücke, ohne dass er es wollte, wie Ohren, die auch dann noch hörten, wenn man sie sich
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