Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Almosen betteln, er sei schon immer mit dem zurechtgekommen, was er mit seinen eigenen Händen erarbeitet habe.«
»Das sieht ihm ähnlich, diesem stolzen, alten…« Lord Jabbok schluckte seinen Ärger hinunter. Hätte er nicht selbst beinahe ein folgenschweres Fehlurteil gefällt, genau wegen dieses vermaledeiten Stolzes? Zum Glück hatte ihm Jonathan einen Spiegel vor Augen gehalten und er hatte seinen Fehler erkannt.
Ruhig fuhr er fort: »Dein Vater hat immer gut für mich gearbeitet und er hat vorbildlich für seine Familie gesorgt. Ich wünschte, alle meine Männer wären so wie er.« Der alte Mann schaute den Sohn des Hirten eindringlich ins Gesicht. »Aber das war doch bestimmt nicht alles, was du mir erzählen wolltest?«
Thomas’ Gesicht war anzusehen, dass er allen seinen Mut aufbringen musste, um den Bericht fortzusetzen. »Nein. Das war nicht alles, Mylord. Bei Sonnenuntergang ging der Atem meiner Schwester immer schwerer – sie bekam kaum noch Luft. Als sie begann blau anzulaufen, bekam meine Mutter fürchterliche Angst und wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Sie dachte, Jenny würde sterben. Deshalb sagte sie mir, ich solle hinauslaufen und meinen Vater rufen – er war draußen bei den Schafen.«
Thomas schaute den Lord und seinen Enkel an, als erwarte er irgendeine Reaktion.
»Und was geschah dann, Thomas?«, ermunterte ihn Jonathan fortzufahren.
»Ich lief so schnell ich konnte zur Weide. Vater war sehr aufgeregt, als er erfuhr, wie es um Jenny stand. Er sagte, er könne die Schafe des Lords nicht alleine lassen. Aber aus seinem Blick sah ich, was er dachte. Deshalb sagte ich, dass ich doch auf die Schafe aufpassen könne, solange er weg wäre
– außerdem wäre ja auch der Hund noch da. Vater willigte schließlich ein. Er trug mir auf, die Schafe von dem Felsen im Norden fern zu halten und eilte schnell nach Hause.
Es dauerte gar nicht lange, da war es stockfinster. Ich war noch nie so lange allein bei den Schafen draußen gewesen, und ich fürchtete mich… ein wenig.« Thomas schaute verlegen zu Boden.
»Ich hätte mich auch gefürchtet, im Dunkeln da draußen, so ganz allein«, ermutigte ihn Jonathans Großvater.
»Ihr, Mylord?«, fragte Thomas ungläubig.
»Natürlich! Furcht ist der beste Weg zur Vorsicht. Nur die Toren haben keine Furcht – man nennt sie auch ›Helden‹ und sie haben meist ein sehr kurzes Leben.« Der alte Mann lächelte den Jungen an. »Was geschah dann?«
»Dann ertönte ein schreckliches Jaulen.«
»Von eurem Hund?«
»Nein, Mylord. Finny lag dicht bei den ruhenden Schafen im Gras. Doch als das Jaulen ertönte, stand er auf, knurrte und rannte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ich rief ihm noch nach, doch er folgte nicht. Kurz darauf hörte ich ein Winseln und dann war es still. Die Schafe setzten sich jetzt in Bewegung – weg von diesem Jaulen. Obwohl ich jetzt noch größere Angst hatte, versuchte ich sie zurückzudrängen. Sie näherten sich nämlich der Felswand im Norden.
Gerade, als es mir gelang sie umzulenken, jaulte es wieder. Kurz darauf hörte ich auch Hundebeilen, aber es kam nicht von Finny. Es war ein anderer Hund.«
»Ich kann mir fast schon denken, was dann geschah«, brummte der Lord mit düsterem Blick.
»Die Schafe flohen wieder nach Norden. Ich gab mir alle Mühe sie zurückzuhalten. Es gelang mir zwar, die Herde auf den lang abfallenden Hang im Westen abzudrängen, aber drei Schafe waren schneller als ich. Voller Angst rannten sie direkt auf den Felsen zu und stürzten hinab.«
Lord Jabbok nickte. »Jetzt geht mir ein Licht auf. Erzähle weiter, Thomas.«
»Etwa zwei Stunden später kam Vater wieder. Er hatte auf dem Weg nach Hause die Kräuterfrau mitgenommen. Die hatte einen kühlenden Kräuterumschlag auf Jennys Hals gelegt, sodass sie bald wieder besser atmen konnte.
Als ich Vater von dem Unglück mit den Schafen erzählte, war er noch niedergeschlagener. Er fürchtete Ihr würdet ihm die Arbeit und unser Zuhause nehmen, wenn Euch zu Ohren käme, welchen Schaden seine Unzuverlässigkeit angerichtet hatte. Deshalb vergrub er die toten Schafe. Er sagte, er würde sie Eurer Lordschaft bezahlen, sobald es irgendwie ginge. Und dann sagte er noch, ich dürfe zu keinem Menschen ein Sterbenswörtchen sagen.«
Lord Jabbok hatte mit auf dem Tisch gefalteten Händen zugehört. Nun stand er auf, ging um den Schreibtisch herum und legten dem Jungen die Hand auf den Arm. »Du bist ein tapferer Bursche, Thomas – weil du
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