Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
versteckte er sich und folgte dem Jungen. Ein Stück weit von Theodors Schafherde ließ er seinen eigenen Hund zurück und schlich sich so weit an den Oberhirten und seinen Sohn an, dass er ihr Gespräch belauschen konnte. Als Theodor seinen Sohn bei der Herde allein ließ, entwarf Ronald seinen niederträchtigen Plan.
»Ich imitierte ein Hundejaulen. Als Finny angelaufen kam, habe ich ihn mit einem Knüppel niedergeschlagen. Dann holte ich meinen eigenen Hund und zusammen trieben wir die Herde auf den Abhang zu – er bellend und ich jaulend.« Voller Hass blickte Ronald auf Theodor. »Jeder sollte wissen, dass dieser Oberhirte sein Amt vernachlässigt hat, dass er die Schuld trug am Verlust einer ganzen Herde. Meine Familie bringt schon seit sechs Generationen Schafhirten hervor. Mir steht der Posten des Oberhirten zu und nicht diesem Eindringling, der sich in das gemachte Nest gesetzt hat.« Ronald senkte den Blick und erklärte zerknirscht: »Leider hat mir Theodors Junge einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er rettete die ganze Herde – bis auf drei Tiere.«
»Und dann hast du die Lüge von dem Diebstahl in die Welt gesetzt, nicht wahr?«
Der Hirte nickte. »Ich beobachtete, wie Galloway die toten Tiere vergrub. Da wurde mir klar, dass der Alte die Sache vertuschen wollte. Ich sah eine Möglichkeit doch noch zu meinem Ziel zu kommen. Also ging ich zu Eurem Verwalter und erzählte ihm die Geschichte von dem Verkauf Eurer Schafe.«
Jonathan hatte das ganze Geschehen schweigend verfolgt. Jetzt fühlte er sich niedergeschlagen, als hätte er selbst eine schreckliche Schuld eingestanden. Es fiel ihm schwer zu begreifen, wie Menschen aus selbstsüchtigen Beweggründen derartige Boshaftigkeiten aushecken konnten. Die Stimme seines Großvaters riss ihn aus seinen Gedanken.
»Ich könnte dich natürlich anzeigen, Ronald McGuire. Aber ich habe dir schon vorhin gesagt, dass ich die Angelegenheiten auf meinem Grund und Boden selbst regele – so, wie ich es für richtig halte.« Der Lord atmete tief durch. »Vor langen Zeiten haben meine Vorfahren einem Verleumder oder jemandem, der bewusst ein falsches Zeugnis ablegt, die Strafe auferlegt, die derjenige eigentlich dem Falschbezichtigten zugedacht hatte. So soll es auch in diesem Fall sein. Du, Ronald McGuire, wolltest Theodor Lohn, Heim und womöglich sogar das Leben seiner kranken Tochter nehmen. Es steht nicht bei mir, über Leben und Tod zu richten. Aber ich verbanne dich von meinen Besitztümern. Bis zum Sonnenuntergang hast du meine Ländereien verlassen.«
Dem Hirten Ronald wurde wahrscheinlich erst in diesem Augenblick die volle Tragweite seiner Tat bewusst. Kraftlos gaben seine Beine unter ihm nach und er sank wimmernd auf die Knie.
Doch der Herr von Jabbok House war noch nicht am Ende. »Das ist noch nicht alles, McGuire. Ich werde Robert sogleich anweisen, allen Clanführern, den Grafschaften im Süden und wen es noch alles betreffen mag, von deinem Fall zu berichten. So ist zumindest sichergestellt, dass deine Niedertracht dort nicht neuen Schaden anrichten kann.«
»Aber Mylord«, flehte Ronald den alten Lord mit einer bittenden Geste an, »wie soll ich dann meinen Lebensunterhalt verdienen?«
Jonathans Großvater blieb hart. »Stell dich endlich auf deine Beine, wie es sich für einen Mann geziemt«, herrschte er den winselnden Hirten an. »Wie hätte denn Theodor deiner Meinung nach für seine Familie sorgen sollen? Wie hätte er einen Arzt für die kleine Jenny bezahlen sollen?« Er drehte sich um, ging zum Fenster, hinter seinem Schreibtisch und blickte in den Park von Jabbok House hinaus. Ohne sich noch ein weiteres Mal zu Ronald McGuire umzudrehen, wiederholte er sein Urteil. »Bis Sonnenuntergang hast du meinen Grund und Boden verlassen. Du musst dich also beeilen, denn meine Ländereien sind weit. Robert Marcus wird dich begleiten – damit du nicht auf dumme Gedanken kommst. Das Beste wird sein, du suchst dir ein Schiff und heuerst an. Vielleicht findest du irgendwo auf der Welt ein Fleckchen, an dem Verleumder willkommen sind.« Und etwas sanfter fügte er hinzu: »Oder wo sie zur Besinnung kommen und ihr Leben mit anständiger Arbeit beschließen können.«
Alsdann widmete sich Lord Jabbok schweigend dem Anblick seiner Parkanlagen. Der Verwalter, Robert Marcus, forderte den Hirten auf ihm zu folgen. Mit gesenktem Kopf ließ dieser sich abführen, als wäre er ein Delinquent auf dem Weg zur Guillotine. Als sich die Tür hinter den
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