Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
der Bitte – bis auf Alfred.
»Ich hatte gesagt: ›Alle!‹«
»Ja, Mylord.«
Mit hoch erhobenem Kinn und tief beleidigt ob des mangelnden Vertrauens seines Arbeitgebers, verließ auch der alte Diener die Bibliothek.
»Jonathan«, sagte Lord Jabbok streng, »ich liebe es nicht, wenn ich vor meinem Personal unterbrochen werde, während ich Anweisungen gebe oder Maßregelungen vornehme…«
»Oder Fehlurteile fällst?«, unterbrach ihn Jonathan. Er blickte seinem Großvater ernst in die Augen. Weil es dem Alten die Sprache verschlagen hatte, fügte Jonathan hinzu: »Außerdem hättest du die anderen bestimmt nicht rausgeschickt, wenn du nicht gemerkt hättest, dass es mir wirklich ernst ist.«
»Du hast Recht«, lenkte der Lord ein. »Also, worum geht es?«
»Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Traum«, begann Jonathan.
Jonathans Großvater runzelte die Stirn. »Nun, ich kann daran nichts Besonderes finden – schon gar nicht bei dir.«
Jonathan ließ sich nicht beirren. »Es ging darin auch um einen Hirten. Sein Name war Lemor. Ich… oder besser der andere Yonathan aus meinen Träumen war ein guter Freund Lemors. Bis dieser eines Tages wie verwandelt schien: Er war ausgesprochen unfreundlich, ja, er tat Yonathan sogar weh. Der war so überrascht und verwirrt – und wütend –, dass er den Hirten verwünschte.«
Lord Jabbok zuckte mit den Schultern. »Das kann schon mal vorkommen, wenn man erregt ist. Ich verstehe immer noch nicht, was das mit Theodor zu tun hat.«
»Wart’s ab, Großvater. Als Yonathan seinem Pflegevater Navran davon erzählte, erfuhr er Dinge, die ihn tief beschämten. Daraus lernte er etwas, das er – und auch ich, Großvater – nie mehr vergaß.«
»Und was war das für eine Lektion, die dieser Navran deinem Traumbruder… und dir beigebracht hat?«
»Man sollte nie vorschnell über die Handlungsweise eines anderen Menschen urteilen, nur weil man sie nicht versteht.«
Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Der verzweifelteÄrger, der seinen Großvater schon am Frühstückstisch geplagt hatte, kehrte zurück. »Aber was soll ich denn machen?«, jammerte er. »Ich glaube ja auch nicht, dass Theodor die Schafe wirklich gestohlen hat. Ich habe ihn ja heute Morgen hierher beordert, damit wir die Sache klarstellen können. Aber er sagt doch nichts! So sehr mir Ronalds Anbiederungen und seine boshafte Art zuwider sind: Ich kann nichts dagegen setzen! Alles, was man wirklich vorweisen kann, spricht gegen Theodor!« Schon längst hatte es den alten Lord nicht mehr in seinem Schreibtischsessel gehalten. Er war aufgesprungen und lief in der Bibliothek hin und her, während er gleichzeitig mit den Armen wild in der Luft herumfuchtelte.
»Hast du noch jemanden über Theodors eigentümliches Verhalten befragt?«, erkundigte sich Jonathan ruhig.
Der Lord erstarrte mitten im Lauf, drehte sich zu seinem Enkel herum und sagte nachdenklich: »Eigentlich nicht.«
»Aber warum nicht?«, fragte Jonathan erregt.
»Ich fühlte mich irgendwie… betrogen«, gestand der alte Lord. »Ich habe Theodor vertraut. Habe ihm und seiner Familie Brot und ein Dach über dem Kopf gegeben. Und jetzt sollte er mich zum Dank dafür bestohlen haben…«
»Kann es sein, Großvater, dass dir auch ein wenig dein Stolz im Wege war?«
Lord Jabbok räusperte sich verlegen. »Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass du etwas altklug bist, Jonathan?«
»Ja.«
»Na, dann ist ja gut.« Grübelnd, mit Daumen und Zeigefinger den buschigen Schnurrbart glatt streichend, schritt der Lord wieder zu seinem Schreibtisch und ließ sich in den Sessel fallen. »Hast du vielleicht einen Vorschlag, was wir nun tun sollen?«
»Ich habe gehört, die kleine Jenny, Theos Tochter, sei krank. Es könnte ja sein, dass Theo deshalb so anders ist als sonst. Warum schickst du nicht einfach deinen Verwalter zu Theos Familie?«
»Nein.«
»Nein?«
»Ich gehe selbst! Ich werde nicht lockerlassen, bis die ganze Angelegenheit geklärt ist.« Entschlossen blickte er auf seinen Erben. »Kommst du mit?«
Jonathan lächelte. »Gerne, Großvater.« Er war sich sicher, dass sich nun für Theodor Galloway und seine Familie alles zum Guten wenden würde.
Von der Tür erklang ein lautes, energisches Klopfen.
»Nicht jetzt!«, donnerte der Großvater.
Aber es klopfte noch einmal, nicht weniger heftig als zuvor.
»Zum…!« Dem Lord fiel gerade noch ein, dass sein Enkel anwesend war. Er verkniff sich wieder einmal das Fluchen und
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