Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Großvaters. Nicht selten hatte Theodor Galloway ihn besucht, wenn er sich zur Berichterstattung auf Jabbok House aufhielt, und oft hatten sie beide im Garten gesessen, während der Hirte immer neue Geschichten zu erzählen wusste. Theodor war mit einer jüngeren Frau verheiratet und hatte selbst Kinder: Thomas, einen Jungen im Alter Jonathans, und Jenny, eine vierjährige Tochter. Die Familie des Hirten lebte in einer kleinen Kate, etwa zwei Meilen von Jabbok House entfernt.
»Ich fürchte«, erklärte Lord Jabbok, während er gedankenverloren auf das sich mit Marmelade voll saugende Zeitungsblatt starrte, »es ist aber so. Ronald, einer der anderen Hirten, sagt, er habe Theodor dabei beobachtet, wie er die Schafe verkaufte. Gestern Abend war ich mit dem Verwalter draußen bei Theodors Herde… Es fehlen wirklich drei Tiere. Und das Schlimmste ist: Theodor stellt sich stur. Er weigert sich auch nur eine Erklärung abzugeben.«
Jonathan schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich kann es trotzdem nicht glauben.«
»Mir will es auch nicht in den Sinn. Theo ist einer meiner besten Männer. Er war immer ehrlich und gewissenhaft. Deshalb habe ich ihn ja auch nicht sofort davongejagt, sondern ihn für heute Morgen hierher bestellt.«
»Darf ich dabei sein, wenn du mit Theo sprichst?«
Der alte Lord zögerte. Jonathans Idee schmeckte ihm gar nicht. Schließlich willigte er aber doch ein.
»Und du bist ganz sicher, Ron, dass es Theodor war, den du die drei Schafe hast verkaufen sehen und dass es meine Schafe waren?«, fragte Lord Jabbok in ernstem Ton den Schäfer Ronald McGuire.
»Da besteht überhaupt kein Zweifel, Mylord«, beteuerte Ronald großspurig. »Es war schließlich helllichter Tag und die Schafe hatten Euer Lordschaft Farbzeichen.«
Jonathan saß schweigend in seinem Rollstuhl und verfolgte gespannt das Geschehen. Neben ihm und seinem Großvater waren Theodor Galloway, Ronald McGuire, der Verwalter Robert Marcus und Alfred, der Butler, in der Bibliothek zusammengekommen.
»Theodor!« Lord Jabbok drang beschwörend in den alten Mann. »Du weißt etwas von der Sache. Das spüre ich in meiner alten Narbe, die ich aus dem Burenkrieg mit nach Hause gebracht habe. Und die irrt sich nie! Also sag es zum…!« Mit einem Seitenblick auf seinen lauschenden Enkel verkniff er sich einen kräftigen Fluch. Stattdessen flehte er geradezu: »Wenn du weiter schweigst, dann muss ich mir mein Urteil anhand der vorliegenden Aussagen und Fakten bilden. Und das kann nur bedeuten, dass du Arbeit und Haus verlierst.«
»Und bei der Polizei angezeigt wirst und den ganzen Schaden wirst bezahlen müssen«, geiferte Ronald.
»Schweig still!«, donnerte der alte Lord den Hirten an. »Bin ich der Herr auf Jabbok House oder bist du es?«
Der so Angefahrene konnte trotzdem den Mund nicht halten. »Es ist Eure Entscheidung, Mylord, einzig und allein Eure Entscheidung.« Mit hasserfülltem Blick und mit dem ausgestreckten Zeigefinger unaufhörlich in Theodors Richtung stoßend hetzte er weiter: »Aber bedenkt: Er ist ein Dieb. Und wenn seine Missetat nicht gebührend bestraft wird, dann könnten auch andere…«
»Schweig! habe ich gesagt und ich werde mich kein drittes Mal wiederholen. Noch ein Wort und du wirst in Zukunft nur noch die geschorene Wolle waschen – so lange, bis deine Finger so aufgeschwemmt sind wie Brot in der Milch.«
Das wirkte. Ronald presste die Lippen zusammen. Aus seinen Augen sprach jedoch der stille Klageruf: Bin ich hier der Beschuldigte oder ist es Euer Oberhirte?
»Nun?«, wandte sich Lord Jabbok wieder an Theodor.
Der schaute zu Boden, sagte jedoch kein Wort.
Jonathan, dessen Gehirn in den letzten Minuten fieberhaft tätig gewesen war, hatte einen Einfall. Eigentlich war es mehr eine Erinnerung. Er näherte sich auf leisen Rädern seinem Großvater am Schreibtisch.
Der atmete gerade tief ein und seufzte: »Also gut… besser gesagt: schlecht. Dann werde ich wohl oder übel…« Er hielt inne, weil ihn Jonathan an seinem Tweedjacket zupfte. »Jonathan, jetzt ist wirklich nicht die richtige Zeit dafür«, tadelte er seinen Enkel.
»Aber ich muss dir etwas sagen«, flüsterte Jonathan so leise er konnte.
»Geht das nicht später?«
»Nein. Es geht nur jetzt!«
Die Männer im Raum schauten sich fragend an. Sie wunderten sich sehr, als Lord Jabbok nach kurzem Zögern erklärte: »Darf ich euch alle bitten, für einen Moment die Bibliothek zu verlassen.«
Leise vor sich hin brummelnd folgten die Männer
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