Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
diesen Eindruck. Die ganze Erscheinung dieses Jungen war ihm so vertraut wie sein eigenes Spiegelbild. Aber es gab auch Unterschiede. Dieser Jonathan wirkte zierlicher, beinahe zerbrechlich, kränklich. »Eigenartig«, setzte Yonathan das Gespräch zaghaft fort, »mir ist so, als würde auch ich dich kennen.«
Jonathan lächelte, den Blick wieder seinem Traumbruder zuwendend. »Das wundert mich nicht. Wir beide sind ja schließlich ein und derselbe.«
»Das ist es nicht«, widersprach Yonathan grübelnd. »Irgendwoher kenne ich dich. Es wird mir schon noch einfallen.« Er lächelte ein wenig spöttisch. »Aber du wolltest mir erzählen, warum es mich nicht gibt.«
Jonathan, der diesen Gesichtsausdruck sehr gut kannte, zog die Stirn in Falten. »Da gibt’s nichts zu grinsen«, sagte er. »Hör erst mal zu. Dann kannst du dir dein Urteil bilden.
Es fing vor fast sechs Jahren an; wir beide waren damals acht. Ich wurde schwer krank. Alle dachten, ich würde sterben. Aber ich wurde wieder gesund – beinahe jedenfalls. Seit damals kann ich nicht mehr laufen und bin auf den Rollstuhl angewiesen.«
»Aber du bist doch vorhin gelaufen«, widersprach Yonathan.
»Das stimmt«, gab ihm Jonathan Recht. »Wie gesagt, das alles hier ist ja nur ein Traum.«
Yonathans Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen. »Ich finde das nicht überzeugend. Ich fühle mich sehr lebendig.«
»Das ist es ja«, jammerte Jonathan. »Seit meiner Krankheit träume ich nur noch von dir. Es ist so, als steckte ich in dir drin, als lebte ich in dir… oder du in mir.«
Yonathans skeptischer Blick wich nicht von seinem Gesicht.
»Ich weiß alles von dir.« Jonathan bemühte sich verzweifelt um Glaubwürdigkeit. »Angefangen von deiner Ankunft in Kitvar, in dieser stürmischen Nacht, bis hin zu deinem Sturz in das Loch, in dem du Haschevet fandest.«
»Zugegeben, du weißt sehr viel von mir. Du siehst mir auch sehr ähnlich. Aber wie…?« Yonathan schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann das nicht glauben. Es klingt zu verrückt!« Dann kniff er die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. »Wer weiß«, zischte er feindselig, während er gleichzeitig von der Bettkante hochfuhr und zwei Schritte zurückwich. Vor Schreck plumpste Gurgi rücklings vom Kopfende des Bettes und konnte sich nur dank seines schnell zugreifenden Schwanzes vor einem tieferen Absturz bewahren. »Möglicherweise bist du sogar ein Spion Sethurs. Vielleicht hat der Grüne Nebel ihn nicht erwischt und nun versucht er mich mit einer neuen List zu überrumpeln. Man sagt, er habe sehr viel Macht. Vielleicht kann er sogar einen Doppelgänger von mir machen, um mich in eine Falle zu locken.«
Jetzt schüttelte Jonathan den Kopf. Verzweifelt ließ er die Schultern niedersinken und seufzte. Wie sollte er seinen Traumbruder nur von der Wahrheit seiner Worte überzeugen? Da entdeckte er den Gegenstand, den seine Hände noch immer umklammerten: die Flöte. Ja, natürlich, die Flöte. »Erinnerst du dich noch an den Morgen deiner Abreise aus Kitvar?«, fragte er aufgeregt. »Navran gab dir damals Goels Beutel, sein Fläschchen und den Dolch.«
Yonathan nickte. »Wie gesagt: Du kennst dich wirklich gut aus.«
»Navran gab dir an diesem Morgen aber noch etwas.«
Yonathans Augen huschten über das kleine Tischchen neben dem Bett, wo er seine wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Aber alles befand sich noch an seinem Platz. »Du meinst…?«
»Die Flöte«, vollendete Jonathan den Satz. »Es war nicht deine Flöte. Du bemerktest es, aber Navran bestand darauf, dass es deine eigene war. Erinnerst du dich?«
Yonathan nickte.
»Und du hattest Recht«, fuhr Jonathan fort. »Es war nicht deine Flöte. Es war meine!«
»Deine?«
»Genau. Auch ich hatte seit Jahren eine Flöte. Oft saß ich in meinem Rollstuhl unter der alten Eiche im Park des Internats und spielte darauf, doch eines Tages war sie…«
»Ich kenne dieses Bild!«, rief Yonathan verblüfft. »Ich habe davon geträumt, mehrmals!« Seine Augen weiteten sich. »Jetzt weiß ich auch, woher ich dich kenne: aus meinen Träumen. Ha! Du bist derjenige, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Dich gibt es nur in meinen Träumen. Und auch dies ist nur ein verrückter Traum. Ich lege mich jetzt wieder hin und warte, bis ich aufwache.«
Jonathan fühlte Panik in sich aufsteigen. Die Dinge entglitten seiner Kontrolle, wenn er sie je unter Kontrolle gehabt hatte.
Sein Traumbruder meinte das Rätsel gelöst zu haben und legte sich
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