Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
verschwunden.«
»Wäre das so schlimm? Mir scheint, dir geht es hier besser als dort. Ich könnte noch einen Zwillingsbruder wie dich gebrauchen.«
»Nein«, wandte Jonathan ein und Bedauern schwang in seiner Stimme. »Es geht nicht. Ich kann nicht einfach verschwinden, ohne zumindest einigen Menschen Lebewohl gesagt zu haben.«
»Du meinst deinen Großvater und Samuel?«
Jonathan nickte.
»Werden wir uns wieder sehen, Jonathan?«
»Ich weiß nicht. Ich denke, wenn du mich mal wieder dringend brauchst, dann wird es auch einen Weg geben. Bis dahin kannst du ja das hier an dich nehmen, als Erinnerung an mich. Sie gehört ja sowieso dir.« Jonathan reichte seinem Traumbruder die Flöte.
Yonathan nahm die andere Flöte vom Tischchen. »Aber nur, wenn du diese hier nimmst.«
Während Jonathan das Instrument entgegennahm, streifte sein Blick den Stab Haschevet, den sein Traumbruder wie immer des Nachts neben sich im Bett aufbewahrte.
»Möchtest du ihn einmal in die Hand nehmen?«, fragte Yonathan, der den Blick bemerkt hatte. »Ich glaube, es würde nichts ausmachen – schließlich sind wir doch beide irgendwie eins, oder?«
»Ich weiß nicht.« Jonathan überlegte einen Augenblick. »Lieber nicht. Du bist der Stabträger. Ich bin nur dein Bruder.« Mit diesen Worten erhoben sie sich. Sie sagten sich Lebewohl und Jonathan streichelte zum Abschied den kleinen Masch-Masch.
Nachdem er wieder durch das Fenster in sein Zimmer zurückgeklettert war, schaute er noch einmal zurück. Sein Traumbruder winkte ihm zu – obwohl er ihn vermutlich gar nicht mehr erkennen konnte – und löschte dann das Licht der kleinen Öllampe. Den Fensterausschnitt füllte nur noch schwarze Leere.
Gedankenverloren schlurfte Jonathan zum Bett und legte sich nieder. Tiefe Befriedigung und Dankbarkeit erfüllten ihn. Er hatte erreicht, was er wollte: Sein Traumbruder nahm den Auftrag wieder ernst. Die wohlvertraute Flöte in den Händen haltend wanderten seine Augen noch einmal zum Fenster. Auf dem schwarzsamtenen Tuch der Nacht funkelten die Sterne wie Millionen kostbarster Diamanten und der Mond warf sein silbriges Licht in den friedlich daliegenden Park von Jabbok House.
Und bevor ihn das Tuch des Schlafes umhüllte, fragte er sich ein letztes Mal: War es Traum oder Wirklichkeit?
XIII.
Das Tor im Süden
Die Tücken der Lebenden Dinge
Gewöhnlich fiel Yonathan das Aufwachen am Morgen äußerst schwer. Er versuchte dann sich selbst davon zu überzeugen, dass das heraufdämmernde Gefühl des Wachseins in Wahrheit nur eine besondere Art von Alptraum sei.
An diesem Morgen hinderte Yonathan etwas ganz anderes daran, sofort die Augen aufzuschlagen und munter aus dem Bett zu hüpfen: Er zweifelte daran, in der vergangenen Nacht wach gewesen zu sein und glaubte jetzt, ein merkwürdiger Traum hätte ihn heimgesucht. Dieser Traum handelte von einer Art Zwillingsbruder, der sich Jonathan nannte und der ihn doch allen Ernstes an seinen Auftrag erinnern wollte. Als wenn er nicht selbst wüsste, dass es jetzt endlich Zeit wäre, die Reise zum Garten der Weisheit fortzusetzen!
War diese Mahnung wirklich so überflüssig gewesen? Er musste sich eingestehen, dass er sich hatte einlullen lassen. Das ruhige, unbeschwerte Leben hier im Verborgenen Land war wie eine Droge. Der Auftrag und eigentliche Anlass für seinen Aufenthalt an diesem Ort waren in weite Ferne gerückt. Fast hätte er ihn vergessen.
»Egal«, sagte sich Yonathan und er bemerkte mit Befremden, dass seine Beine schon über dem Bettrand baumelten. Ob dieser Besuch seines anderen Ichs nun Traum oder Wirklichkeit war, eines stand fest: Noch heute würde er seine Reise fortsetzen und nichts könnte ihn davon abhalten.
Entschlossen griff er zum Stab Haschevet und schwang sich vollends aus dem Bett. Sein Blick fiel auf den Durchgang und er stutzte. War nicht am Abend zuvor die Tür zum größeren Aufenthaltsraum offen gewesen? Natürlich! Und er hatte sie dann in der Nacht selbst geschlossen, damit das Licht in seiner Kammer und das Gespräch mit seinem Besucher nicht die beiden Gefährten weckte. Also war es doch kein Traum? Andererseits konnte einer der beiden Freunde einfach die Matte heruntergelassen haben, um Yonathan, den sie noch schonen wollten, nicht zu wecken.
Plötzlich schoss eine Erinnerung aus den Tiefen seines Bewusstseins empor. Die Flöte! Er wirbelte herum und seine Augen überflogen das Tischchen neben dem Bett. Doch das Instrument fehlte. Alles
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