Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Fenster dort geklettert?« Yonathan deutete ungläubig in die Richtung, in der sich das einzige Fenster der kleinen Kammer befand. Der schwache Lichtschein seiner Lampe reichte nicht aus, um mehr als einen schwarzen Rahmen erkennen zu lassen.
»So muss es wohl sein.«
Nun hielt Yonathan nichts mehr in seinem Bett. Er schwanghastig die Beine heraus, griff nach dem Öllämpchen und tappte zum Fenster, dicht gefolgt von seinem anderen Ich. Was sie sahen, verblüffte sie beide. Jonathan, weil er immer noch darüber staunte, wie nah sich hier die beiden Welten kamen, und seinen Traumbruder, weil er in ein Zimmer sah, so fremd wie das Schlafgemach des Kaisers von Cedanor.
»Das ist dein Rollstuhl, stimmt’s?«, fragte er schließlich.
»Ja, das ist er«, sagte Jonathan bitter.
»Meinst du, ich könnte mal da rüber klettern?«
Jonathan erschrak bei dieser Frage, ohne zu wissen warum. »Lieber nicht«, hielt er den anderen zurück. »Wer weiß, was passiert, wenn ich erwache, während du da drüben bist.«
»Das wäre sicher lustig. Wir könnten für eine Weile die Rollen tauschen – so wie vorher unsere Flöten.«
»Yonathan!«, rief Jonathan. Gleichzeitig packte er ihn mit beiden Händen bei den Schultern, schaute ihm fest in die Augen. »Verstehst du denn nicht, wie wichtig das ist, was ich dir sagen wollte? Sonst hätte sich dieses Tor zwischen der Erde und Neschan bestimmt nicht geöffnet.« Er wies auf das Fenster. »Vielleicht wird es das nie wieder tun. Deshalb kann ich es dir nur einmal sagen: Du musst deine Reise fortsetzen und Goel den Stab überbringen! Sonst ist alles verloren und Bar-Hazzat hat sein Ziel erreicht – egal, ob er nun den Stab bekommt oder nicht. Er hat auf alle Fälle verhindert, dass der siebente Richter ihn erhält. Ich glaube nicht, dass er sich unter diesen Umständen noch lange in Temánah verstecken wird. Es wird bald keinen Ort auf Neschan mehr geben, der vor seinem bösen Einfluss sicher ist – außer dem Garten der Weisheit vielleicht, aber ohne Richter wird das genauso sein, als wäre Gan Mischpad aus dieser Welt verschwunden, als gäbe es den Garten nicht mehr.«
Diese Worte trafen Yonathan. »Ich hatte nie die Absicht meinen Auftrag nicht zu erfüllen«, sagte er etwas lahm.
»Mag sein. Aber du hast dich von Din-Mikkiths gut gemeinten Worten einwickeln lassen.«
»Stimmt es etwa nicht, dass ich erst ganz gesund sein muss, ehe ich meine Reise fortsetzen kann?«
»Natürlich stimmte das. Solange du noch krank warst. Aber nun bist du es nicht mehr. Du streifst durch den Regenwald, spielst mit Gurgi und freust dich deines Lebens. Nur an deinen Auftrag – an Yehwohs Auftrag! – scheinst du nicht mehr zu denken. Und glaube mir: Ein zu spät erfüllter Auftrag ist ein unerfüllter Auftrag.«
»Du hast Recht«, gab Yonathan zu. »Anfangs habe ich mich noch dagegen gewehrt, länger als nötig hierzubleiben. Aber dann dachte ich nur noch daran, wie schön es hier ist. Ich habe den Auftrag einfach in weite Ferne gerückt.«
Jonathan legte seinem Traumbruder tröstend den Arm um die Schulter. »Und deine beiden Freunde haben dich unfreiwillig noch unterstützt. Vor lauter Rücksicht auf dich haben sie dich in deiner Einstellung noch bestärkt, anstatt dich zu ermuntern recht bald aufzubrechen. Was wirst du jetzt tun?«
Beide saßen nun wieder auf der Bettkante und Entschlossenheit kehrte in Yonathans Augen zurück. »Was gibt’s da noch zu fragen? Ich packe meine Sachen und breche auf.«
»Und wenn Din-Mikkith versucht dich zurückzuhalten?«
»Anscheinend brauche ich ab und zu jemanden, der mich wachrüttelt.« Yonathan lachte. »Im wahrsten Sinne des Wortes! Beim ersten Mal war es Benel und heute bist du es gewesen. Eins steht jedenfalls fest: Ich werde morgen aufbrechen – wenn es sein muss, sogar allein.«
Auch Jonathan lächelte. »Jetzt stimmt es wieder, das Bild, das ich mir von dir gemacht habe. Ich war fast immer kränklich und konnte keine Abenteuer erleben. In meinen Träumen hast du das immer für mich besorgt. Du bist nicht nur stärker als ich, sondern auch unternehmungslustiger.«
»Ich glaube, wir könnten gute Freunde werden.«
»Sind wir das nicht schon immer gewesen?«
Yonathan zuckte die Achseln. »Möglich. Was wirst du nun tun?«
Jonathan schreckte hoch. »Gut, dass du mich das fragst. Ich muss wieder rüber in mein Zimmer. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn ich jetzt aufwachen würde. Vielleicht wäre ich dann für immer von der Erde
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