Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
mehr waren.«
»Aber was hat das alles mit diesem Stab zu tun?«, warf Yonathan ein.
»Geduld, mein Junge«, erwiderte Navran ruhig. »Darauf komme ich gleich. Das Aussehen dieser Kreaturen war nicht das eigentliche Problem. Als Kinder eines Rebellen hatten sie nämlich auch den störrischen und bösen Geist ihres Vater geerbt. Harmonie und Ordnung gab es nicht mehr. Die Geschöpfe Melech-Arez’ waren nahe daran, sich gegenseitig zu zerfleischen. Yehwoh wurde darüber mit großer Traurigkeit erfüllt und so tilgte er den ursprünglichen Namen dieser Welt aus und nannte sie fortan Neschan, was – wie du weißt – ›Tränenwelt‹ bedeutet.«
Yonathan rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her.
»Yehwoh verhängte also sieben Iddanin über Neschan. Damit sind die Amtszeiten der sieben Richter gemeint, die Yehwoh in die Tränenwelt senden wollte, um einen Gegenpol zu dem bösen Geist Melech-Arez’ zu bilden.«
Yonathan nickte. Diese Geschichte hatte er natürlich schon oft gehört. Jedes Kind auf Neschan kannte die uralte Prophezeiung von den sieben Verwaltern, die von ihrem weisen König in das verwahrloste Tränenland geschickt worden waren, um den rebellischen Fürsten zurechtzuweisen und die Folgen seiner schlechten Herrschaft zu beseitigen.
Viele sahen heute in den Richtern Neschans eher eine traditionelle Einrichtung, ohne große Bedeutung für das tägliche Leben. Auch Yonathan war vieles unklar, was mit den sieben Richtern zu tun hatte. So sollte zum Beispiel jeder von ihnen fast tausend Jahre alt geworden sein. Wie war das möglich? Goel, der amtierende sechste Richter, war schon seit Jahrhunderten nur noch von wenigen Menschen gesehen worden. Gab es ihn überhaupt? Woher kamen diese Richter? Nie erfuhr man etwas über ihre Herkunft. Wohin verschwanden ihre sterblichen Überreste nach dem Tod? Man sagte, Yehwoh würde ihre Gebeine aufbewahren, bis die Welt ein zweites Mal getauft würde.
Navran fuhr in seiner Erzählung fort.
»Als Yenoach, der erste Richter, eingesetzt wurde, erbat er sich ein Zeichen seiner Amtsbefugnis, das er den Bewohnern Neschans zeigen könne. Erinnerst du dich noch, was Yehwoh auf diese Bitte Yenoachs hin tat?«
Yonathan fiel es wie Schuppen von den Augen und ein Schauder lief ihm über den Rücken. Ungläubig blickte er zu dem Stab, dessen goldener Knauf das wenige Licht in der Hütte aufzusaugen schien, um Hunderte von Lichtpünktchen über Decke und Wände zu versprühen.
Benommen erwiderte Yonathan: »Yehwoh gab Yenoach einen Amtsstab. Ich glaube Yehwoh sagte zu Yenoach: ›Hier gebe ich dir Haschevet, den Stab, und jeder, der deine Befugnis in Frage stellt, soll ein Abbild meiner Macht zu sehen bekommen, durch dich und durch den Stab.‹ Du meinst doch nicht etwa…?«
»Dass dies der Stab Haschevet ist?«, half Navran. »Doch, das meine ich, Yonathan. Du hast selbst die merkwürdigen Veränderungen gespürt, als du den Stab in die Hand nahmst. Alle deine Sinne waren mit einem Mal geschärft. Und dann die Leichtigkeit, mit der der Stab Felswände zu Staub verwandelte.
Dies ist der Stab Haschevet!
Die rebellischen Bewohner Neschans hätten sich bestimmt nicht von einem alten Mann mit einem kunstvollen Stab beeindrucken lassen. Haschevet war das Symbol und zugleich auch das Mittel der Macht Yehwohs. Mit seiner Hilfe sorgten die Richter viereinhalbtausend Jahre lang für ein Gleichgewicht, das jedem Geschöpf Neschans erlaubte seine eigene freie Wahl zu treffen – entweder für das Licht Yehwohs oder für die Finsternis Melech-Arez’.«
Yonathans Blick haftete auf dem Stab, während Navran fortfuhr.
»Nur einige Auserwählte, Menschen mit reinem Herzen, können den Stab Haschevet berühren, ohne dafür mit dem Leben zu bezahlen. Offenbar konnten bisher nur die sechs Richter Neschans den Stab tragen; so sagt man jedenfalls.«
»Ist das der Grund, weshalb du ihn vorhin nicht berühren wolltest?«, fragte Yonathan.
Navran lächelte. »Ich hänge an meinem Leben, Yonathan, auch wenn es schon ziemlich lange dauert.«
»Aber du bist doch kein schlechter Mensch. Dir würde der Stab nichts tun.«
»Welcher Mensch kann schon von sich behaupten, er sei wirklich gerecht. Wir sind alle unvollkommen und begehen Fehler.«
»Die Richter sind doch auch nur unvollkommene Menschen und ich… Warum konnte ich den Stab berühren?«
»Ganz einfach: Yehwoh trifft die Wahl. Er gibt den Stab dem, der in seinem Auftrag handelte und der darf den Stab für eine gewisse Zeit
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