Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
besitzen. Wenn ich jetzt meine Hand nach ihm ausstrecken würde, dann wäre dies ein Zeichen von Hochmut und Stolz. Ich glaube nicht, dass Yehwoh eine solche Haltung dulden würde.«
»Und du meinst, seine Wahl ist ausgerechnet auf mich gefallen? Er hat den Stab in der Erde vergraben, damit ich ihn wieder hervorhole?«
»Erinnerst du dich, was mit Haschevet geschah, nachdem Goel, der sechste Richter Neschans, ihn empfangen hatte?«
»Er hatte ihn irgendwo in der Nordregion verloren«, murmelte Yonathan. »Aber dass dies so nahe bei Kitvar geschehen ist, war mir nicht bekannt.«
»Es ist vielleicht besser, wenn ich von vorne beginne:
Als Goel auf Neschan erschien, um das Amt des sechsten Richters anzutreten, war er noch sehr jung, erst zweiunddreißig Jahre. Seine Amtsführung war zunächst ein wahrer Segen. Viele ließen sich anstecken von seinem Temperament und seinem Eifer. Die Menschen folgten wieder den gerechten Gesetzen Yehwohs. Mit Macht trat er ein für den Namen Yehwohs und kämpfte gegen den üblen Einfluss Melech-Arez’. Goel bedeutet ›Befreier‹ oder ›Rächer‹ – ein passender Name.
Nach etwa siebenhundertfünfzig Jahren von Goels Amtszeit begann Grantor, der dunkle Herrscher Temánahs im Süden, sich zu rühren. Mit allen Mitteln versuchte er seinen Einfluss auf die Länder des Lichts auszudehnen, erst durch Korruption und politisches Ränkespiel und dann mit blanker Gewalt. Bald standen Grantors Horden vor den Toren Cedanors, der alten Kaiserstadt. Er wollte das Herz des Widerstandes treffen und errichtete einen Belagerungsring um die Stadt.
Goel rief vom Garten der Weisheit aus, wo er residierte, die Steppenvölker der fernen Ostregion um Hilfe an, aber nur wenige kamen. Ein kleines Heer tapferer Streiter schloss sich ihm an, um der Streitmacht Grantors entgegenzutreten.
Es gab ein Höhlensystem unter der Stadt. Durch diese Tunnel, die ein verborgener Strom aus dem Drachengebirge geschaffen hatte, sandte Goel einen Boten in die Stadt, um den Kaiser in seine Pläne einzuweihen.
Dann stellte er sich Grantor. Dieser sah den Triumph in greifbarer Nähe und verlor alle Vorsicht. Es gelang dem Richter, Grantor von der Stadt fortzulocken, und dieser ließ nur eine kleine Streitmacht zurück, um die Belagerung Cedanors aufrechtzuerhalten. Mit dem Rest seiner Armee folgte er Goels kleiner Schar.
Aus dieser Verfolgung wurde ein langer Marsch. Goel wollte Grantors Truppen zermürben. Seine kleine Armee war viel beweglicher als die riesige Streitmacht Grantors. Es gelang Goel, Grantor durch viele Hinterhalte empfindliche Schläge zu versetzen und Grantor wurde in seiner Wut unvorsichtiger. Er folgte Goel durch das Drachengebirge immer weiter in die Nordregion hinein. Sein Heer wurde kleiner, sein Zorn größer und er hinterließ eine Spur der Verwüstung. Als seine Horden auf das kleine Volk der Behmische stießen, brachten sie alle um, bis auf einen, der sich Goel als Fährtensucher angeschlossen hatte.
Doch alles blindwütige Morden und Brennen nutzte dem dunklen Herrscher Temánahs nichts. Ohne dass er einschreiten konnte, wurde sein Belagerungsring um Cedanor gesprengt. Nach Goels Plan hatte sich eine Anzahl von Kriegern durch die unterirdischen Höhlenanlagen hinter die Belagerer geschlichen, sodass diese in die Zange gerieten; sie wurden aufgerieben bis zum letzten Mann und Cedanor war wieder frei.
Schließlich kam es auch zur direkten Konfrontation zwischen Goel und Grantors Hauptarmee. Goel hatte die feindlichen Truppen auf eine Hochebene gelockt, die ringsum von seinen Männern eingeschlossen war. In der Nacht vor der Entscheidung betete er zu Yehwoh, dass er seinen Namen rechtfertigen möge. Am darauf folgenden Tag trat er allein vor die gegnerische Armee.
Grantor verhöhnte Goel, der es wagte sich als Einzelner einer so gewaltigen Streitmacht gegenüberzustellen. ›Du Wicht wagst es, mich wochenlang durch die Wildnis zu locken, um dich dann hier wie ein feiger Hund erschlagen zu lassen?‹
Diese Worte waren zu viel für Goel. Er verlor die Beherrschung und erwiderte brüllend: ›Hier, Grantor, Sklave des Widersachers Melech-Arez, des sogenannten Herrschers der Welt, stehe ich, Goel, sechster Richter von Neschan. Dein Frevel hat den Erdboden mit dem Blut der Unschuldigen getränkt, sodass ich heute dafür ihr Blut von deiner Hand zurückfordere. Daher rufe ich den Sturm, der dich und deine Horden in alle Himmelsrichtungen zerstreuen soll, sodass deiner bösen Taten Wurzel und
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