Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Wald nach dir zu durchforsten. Meinst du nicht auch?«
Yonathan senkte den Kopf. Navran hatte natürlich Recht. Es gab gar keinen Zweifel, dass sein Pflegevater alles getan hätte ihn zu finden.
»Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich glaube, ich habe eine Dummheit begangen.«
Navran hatte sich dem Kamin zugewandt und brachte nun ein kleines Feuer in Gang. Ohne sich umzuwenden, sagte er: »Ich schlage vor, du beginnst von vorn. Setz dich und erzähle mir alles, was geschehen ist.«
Yonathan versuchte seine Gedanken zu ordnen. Dabei schaute er Navran zu, der einen Messingtopf von einem Dreifuß nahm und ihn an der Kette über dem Feuer aufhängte. Schon bald war der ganze Raum von viel versprechendem Duft erfüllt und Navran setzte sich wieder zu Yonathan an den Tisch.
Solange er sich erinnern konnte, war der alte Mann für ihn der Inbegriff menschlicher Erfahrung und Weisheit gewesen. Und doch kannte er eigentlich nur den Navran, der hin und wieder zum Fischen aufs Meer hinausfuhr, sich um seinen Zögling kümmerte und regelmäßig den Großen Markttag von Kitvar besuchte. Den anderen Navran Yaschmon, der einst ganz Neschan bereist hatte, kannte er nicht. Er konnte weder sagen, wie alt sein Pflegevater wirklich war, noch, warum er sein bewegtes Leben schließlich aufgegeben und sich in die Abgeschiedenheit der Nordregion zurückgezogen hatte. Schließlich war Navran alles andere als ein schwacher Greis, der einen Altersruhesitz nötig hatte. Im Gegenteil, sein Gang war noch immer federnd und seine Statur schlank. Die Haare seines Hauptes sowie seines gepflegten, kurz geschnittenen Vollbartes leuchteten schneeweiß. Seine wasserblauen Augen strahlten jugendlich und so manches Mal hatte Yonathan es schon bedauert, dass ihnen anscheinend gar nichts entgehen wollte. Trotz aller Vertrautheit und Geborgenheit umgab Navran ein Geheimnis, das Yonathan nicht durchschauen konnte. Dennoch stand es für ihn fest, dass er einmal wie Navran Yaschmon werden wollte und er bemühte sich stets, so viel wie möglich von seinem Pflegevater zu lernen.
Er begann mit dem Ereignis, das eigentlich an den Schluss seiner Erzählung gehört hätte. Er berichtete nun, was draußen bei den Weideplätzen geschehen war.
Navran nickte und sagte mit ernster Stimme: »Ich glaube, mein Junge, du kannst aus dieser Begebenheit etwas sehr Wichtiges lernen.«
»Was meinst du damit? Ich weiß ja, dass man einen Menschen nicht verwünschen soll. Aber ich konnte mir einfach keinen Reim machen auf Lemors Verhalten.«
»Ja, weißt du… In der vergangenen Nacht ist Lemors Frau gestorben. Gestern wurde ihr mit einem Mal unwohl. Sie bekam Fieber und Schüttelfrost. Schließlich verlor sie die Besinnung und wachte nicht mehr auf.« Dann fügte Navran hinzu: »Sicher war es nicht richtig, wie Lemor gehandelt hat, aber vielleicht ist es irgendwie verständlich.«
Yonathan traf die Nachricht wie ein Schlag. Lemors Frau war immer freundlich zu ihm gewesen. Oft hatte sie ihn bemuttert, anstelle der eigenen Kinder, die ihr versagt geblieben waren! Und jetzt sollte diese liebe Frau nicht mehr leben? Das war schwer zu begreifen.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte er nach langem Schweigen. »Man soll nie vorschnell über einen Menschen urteilen, auch wenn man das, was er tut oder sagt, nicht gleich versteht. Er mag Gründe dafür haben, an die man selbst nie denken würde.«
Gründlich erforschte Navran das traurige Gesicht seines Zöglings. Dann beugte er sich vor, legte ihm die Hand auf den dunklen Haarschopf und sagte lächelnd: »Du hast weise gesprochen. Es ist gut, wenn man sich mit seinem Urteil zurückhält und versucht die Hintergründe einer Angelegenheit zu erkennen. Aber du wolltest mir von deinen Abenteuern berichten. Ich möchte gerne hören, wie viele Drachen du erlegt hast.«
»Nun, Drachen waren es nicht gerade, aber du kommst der Sache schon ziemlich nahe.«
Und so erzählte Yonathan seine Geschichte. Vom Anfang seines Marsches, der so normal begann wie viele andere Tagesausflüge zuvor, über seinen Sturz in das Erdloch und seinen Kampf mit dem Erdfresser, bis hin zu seiner Rückkehr nach Hause. Als er den Stab erwähnte, den er in dem unterirdischen Gewölbe gefunden und der ihm offenbar das Leben gerettet hatte, veränderte sich Navrans Gesichtsausdruck. Eigentlich hob er nur die rechte Braue und seine Augen begannen seltsam zu glänzen. Yonathan beendete seine Erzählung mit der Einsicht: »Ich weiß, dass es nicht gerade klug ist, mit gen
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