Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
erhob er sich von seinem Platz und räusperte sich vernehmlich. Die wenigen Geräusche, die es bis dahin noch im Speisesaal gegeben hatte, erstarben. Alle Blicke versammelten sich auf dem gestrengen Antlitz des Heimleiters.
»Gestern hat sich in unserem Hause ein Fall beispielloser Disziplinlosigkeit zugetragen, zu dem ich jetzt Stellung nehmen möchte.«
Aha, dachte Jonathan, die öffentliche Zurechtweisung. Seine Hände klammerten sich unter der Tischplatte um die Armlehnen des Rollstuhls. Er versuchte einfältig und so teilnahmslos wie möglich zu erscheinen. Er war gewappnet.
In diesem Moment klopfte es an der Tür und Samuel Falter trat in den Saal.
»Soeben ist Besuch für Euch eingetroffen, Sir«, tat er mit einer leichten Verbeugung kund. »Der hohe Herr wünscht Euch dringend zu sprechen.«
»Aber das geht doch nicht, Falter!«, fuhr ihn Sir Malmek verärgert an. »Sagen Sie dem Gast bitte, er möge warten. Ich bin hier gerade bei einer wichtigen Rede, zur Stärkung der Moral und zur Warnung für alle Respektlosen.«
Er holte Luft, um seine Ausführungen fortzusetzen, da unterbrach ihn der Heimdiener abermals.
»Der Besucher hat mir mitgeteilt, dass die Angelegenheit keinen Aufschub duldet.«
Samuel trat an Sir Malmek heran und flüsterte etwas. Dabei zwinkerte er Jonathan zu.
»Der Junge kommt mit«, raunte Sir Malmek. »Und geben Sie auch Pastor Garson Bescheid, dass er in mein Büro kommen möge.«
Im nächsten Moment hatte der Heimleiter auch schon den Speisesaal verlassen. Sofort breitete sich Flüstern aus.
Samuel nahm sich Jonathans Rollstuhl an. Draußen auf dem Flur flüsterte er verschwörerisch: »Es gibt eine Überraschung, Jonathan. Dein Großvater ist hier und ich habe ihm auch schon erzählt, was gestern vorgefallen ist. Wie er mir sagte, hatte er dringende Geschäfte in Edinburgh zu erledigen und da wollte er natürlich nicht wieder heimfahren, ohne seinem Enkel in Loanhead einen Besuch abzustatten.«
Jonathan strahlte. Das war wirklich eine gute Nachricht! Viel zu selten sah er seinen Großvater, fast nur in den Ferien. Ohne Frage würde sich jetzt auch das Problem mit Pastor Garson lösen. Warum sonst hatte Sir Malmek es so eilig gehabt den Geistlichen in sein Büro zu bestellen?
Vor dem Arbeitszimmer des Heimleiters ließ Samuel Jonathan warten, während er selbst nach kurzem Anklopfen in dem Raum verschwand. Wenig später kam er wieder heraus, nickte Jonathan noch einmal aufmunternd zu und eilte mit langen Schritten davon, um Pastor Garson herbeizuholen.
Jonathan saß nun allein im Dämmerlicht des Ganges. Aus weiter Ferne drangen die unbekümmerten Stimmen der Mitschüler herüber. Der finstere Korridor wirkte wie eine Familiengruft. Hier war das Allerheiligste, jener Teil des altehrwürdigen Internats, der nur von einer ausgewählten Kaste
– der Lehrerschaft – betreten werden durfte.
Jonathan starrte die Tür an, hinter der sich sein Großvater befinden musste. Seit vielen Wochen hatte er ihn nicht mehr gesehen und nun durfte er nicht einmal zu ihm.
Die Tür vor ihm glitt mit einem leisen Klick auf; Samuel hatte sie wohl nicht richtig zugezogen, sodass ein leichter Luftzug ausgereicht hatte sie einen Spaltbreit aufzudrücken. Aus dem vorher noch gedämpften Gemurmel wurden nun Worte und Sätze deutlich.
»… hat sich jedenfalls nicht so benommen, wie es sich für einen dreizehnjährigen Jungen gegenüber einem Mitglied des Lehrkörpers gehört«, konnte er Sir Malmeks erregte Stimme vernehmen.
»Hat mein Enkel denn ungebührliche Worte oder Frechheiten von sich gegeben?«, entgegnete eine zweite Stimme. Voller Freude erkannte Jonathan die tiefe und etwas raue Stimme seines Großvaters.
»Nun, so würde ich es nicht gerade ausdrücken, Lord Jabbok. Der Junge hat einen theologischen Disput mit Pastor Garson ausgetragen.«
Sir Malmeks Stimme klang gequält, was Jonathan ein schadenfrohes Lächeln entlockte. Sein Großvater versorgte das Knabeninternat großzügig mit Spenden. Hier war schon sein Vater erzogen worden und seitdem der jüngste Spross der Jabboks das Internat besuchte, flossen die Zuwendungen besonders reichlich. Sir Malmek wollte sich und das Heim natürlich nicht durch unüberlegte Äußerungen dieser Einnahmequelle berauben.
Der alte Lord Jabbok war nicht der Mann, der die Fehler der eigenen Kinder und Enkel wohlwollend übersah. Was er aber unter keinen Umständen duldete, das war Ungerechtigkeit – auch wenn er dabei seinen eigenen Maßstab von
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