Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
du unbedingt mitnehmen.«
Einen Moment lang starrte Yonathan den Boten an; dann begriff er, was Benel sagen wollte. Der Stab musste zum Garten der Weisheit getragen werden. Das war Yonathans Auftrag; alles andere war nebensächlich.
»Ich werde Haschevet ganz bestimmt nicht vergessen«, versprach er.
Als Benel seine Hand ausstreckte, um Yonathans Kopf zu streicheln, zuckte der zusammen, als fürchte er, von dem gleißenden Licht des Boten verbrannt zu werden. Doch er spürte nur eine Berührung, die ihn mit Wärme und Zuversicht erfüllte.
»Jetzt solltest du schlafen«, sagte Benel. »Der morgige Tag wird sehr ereignisreich werden.«
Sogleich senkte sich eine schwere Müdigkeit auf Yonathan herab. Gähnend entgegnete er: »Schade, dass Ihr mich nicht begleiten könnt. Werden wir uns wieder sehen, Benel?«
»Da bin ich mir ziemlich sicher, Yonathan. Bis dahin wünsche ich dir eine gute Reise. Lebe wohl, mein Bruder.«
»Lebt wohl, Benel.«
Yonathan sah, wie sein Besucher ohne Ankündigung und ohne Geräusch verschwand, als wäre er nie da gewesen. Aber er war viel zu müde, um sich noch darüber zu wundern. Schon fielen seine Augen zu und er sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
IV.
Die Entwarnung
Es gab Tage, da blieb Jonathan am liebsten im Bett und redete sich ein, er schliefe noch. Dafür gab es verschiedene Ursachen: lästige Arbeiten, bevorstehende Auseinandersetzungen oder Träume, die sich aufzulösen drohten.
Dies war so ein Morgen. Das Wortgefecht mit Pastor Garson am vergangenen Tag hatte Jonathan einerseits mit einem Hochgefühl erfüllt und ihn in seinem Standpunkt ermutigt, auch in Zukunft das, was er als gerecht und wahr empfand, mit Nachdruck zu vertreten. Andererseits musste er nun mit einer so heftigen Zurechtweisung durch Sir Malmek rechnen, wie er sie wohl noch nie zuvor erhalten hatte. Dass der gestrige Nachmittag und Abend so ruhig verlaufen waren, lag wohl nur an der Taktik Sir Malmeks, der seine Opfer gern ein Weilchen schmoren ließ.
Auf jeden Fall durfte man seine Überzeugung und seinen Glauben nicht wegen ein paar Unannehmlichkeiten verleugnen. Deshalb blickte er dem Zorn Sir Lucius Malmeks auch gefasst entgegen. Einzig die Aussicht auf die endlosen Minuten, die er im Hagel der Vorwürfe, Ermahnungen und Anordnungen des Heimleiters würde zubringen müssen, bereitete ihm noch Unbehagen.
Mit dramaturgischem Geschick wusste Sir Malmek seine erzieherischen Ansprachen stets zu einem unvergesslichen Erlebnis zu gestalten. In einer Kaskade ausgeklügelter Gemeinheiten, einer bewundernswert reichen Palette von Bloßstellungen verstand er es, den armen Sünder der Urteilsverkündung entgegenzuführen. Sir Malmek liebte großes Publikum, und so musste Jonathan wohl davon ausgehen, dass seine Mitschüler allem Ungemach noch ein paar hämische Bemerkungen hinzufügen würden.
Es klopfte an der Tür. Der Knauf drehte sich und Samuel Falters schneeweißer Haarschopf schob sich durch den Spalt.
»Ich sehe, du bist schon wach«, sagte Samuel mit einem Lächeln. »Es wird Zeit. Sir Malmek hat ausrichten lassen, dass du am Frühstück teilnehmen darfst.«
Jonathan konnte dieser Nachricht nichts Gutes abgewinnen. Schwerfällig setzte er sich im Bett auf, reckte sich und gähnte: »Wahrscheinlich will er mich vor allen zurechtweisen.«
»Ich würde die ganze Angelegenheit nicht so ernst nehmen. Wenn Sir Malmek dich von der Schule werfen wollte, dann hätte er dich sicher schon davon in Kenntnis gesetzt. So sieht es eher nach einer gehörigen Strafpredigt aus – und die geht vorüber.«
»Hoffentlich hast du Recht, Samuel. Ein wenig Schelte kann nicht schaden. Mag sein, dass ich wirklich zu vorlaut gewesen bin.«
»Etwas Achtung vor dem Alter kann euch jungen Burschen nicht schaden. Der Respekt sollte allerdings nie so weit gehen, dass man ihm wertvolle Grundsätze opfert. Du hast dich in dieser Hinsicht als ein richtiger Mann erwiesen, Jonathan.«
Jonathan setzte sich auf. »Also gut, Samuel. Stellen wir uns dem Feind!«
Das Frühstück verlief eigenartig ruhig. Ein unnatürliches Schweigen hatte sich der Schüler und des Heimleiters bemächtigt. Selbst das Klappern des Bestecks klang irgendwie geknebelt, unterdrückt, so als dränge es durch eine verschlossene Tür. Flüstern und Knuffen fehlten an diesem Morgen. Nur verstohlene Blicke. Und ein seltsames Knistern in der Luft, eine körperlich spürbare Spannung.
Nachdem Sir Malmek sein Frühstück beendet hatte,
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