Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Bein auf das Deck setzen wollte, rollte eine zweite Welle über die Weltwind hinweg, größer und erbarmungsloser als alle anderen zuvor. Ohne die geringste Chance einen rettenden Griff anzubringen, stürzten beide in die brodelnde Gischt des tobenden Meeres. Kaldek und Hardor verfehlten sie nur um Haaresbreite.
Während Yonathan fiel, entglitt ihm der Arm seines Freundes. Hart schlug er auf dem Wasser auf und versank wie betäubt in den grauschwarzen Fluten. Für einen Moment schwebte er in einer anderen Welt; alles war eigenartig still um ihn herum. Doch dann wurde er sich seiner gefährlichen Situation bewusst, er strampelte und kämpfte sich prustend wieder an die tosende Wasseroberfläche empor.
Unerwartet drang eine kalte, krächzende Stimme an sein Ohr. »Yonathan, bleib hier! Es hat keinen Zweck zu fliehen. Ich bekomme dich doch. Bleib hier, Yonathan!«
Zirah!, stellte Yonathan fest und es klang ganz nah, als säße der unheimliche Vogel auf seiner Schulter.
Er versuchte sich zu orientieren. Wo war die Weltwind? Als er den Schatten des Schiffes endlich entdeckte, fuhr ihm ein Schrecken in die Glieder, er schluckte Wasser und prustete aufs Neue: Die Weltwind war nicht mehr zu erreichen. Der Sturm hatte sie vorwärts gepeitscht wie ein Reiter, der seinem Ross das Letzte abverlangte.
Doch wo war Yomi? »Yo! Yomi!«, schrie er. Sein Freund war nirgends zu sehen.
Erschöpfung überwältigte ihn, seine Glieder waren bleischwer. Er hatte Salzwasser geschluckt und ihm war übel. Er war kein sehr guter Schwimmer. Im kalten, unruhigen Meer vor den Klippen Kitvars begab sich niemand freiwillig ins Wasser. Außerdem behinderten sein Mantel und der Köcher mit dem Stab Haschevet auf dem Rücken seine Bewegungsfreiheit. Allmählich geriet er in Panik. Das durfte nicht das Ende sein! Zum Ertrinken war sein Auftrag viel zu wichtig. In hastigen Bewegungen versuchte er sich an der Wasseroberfläche zu halten, doch immer häufiger musste erdas salzige, Übelkeit erzeugende Wasser schlucken. »Yomi! Yomi!«, brüllte er heiser, doch es kam keine Antwort. Seine Arme und Beine schmerzten. Nur noch undeutlich nahm er wahr, dass er sich den Klippen des Ewigen Wehrs näherte. Wie durch einen Schleier tauchte die schwarze Wand vor ihm auf. Dort gab es keinen Halt, kein rettendes Ufer, nur nackten Fels. Er musste versuchen sich wieder von den Klippen zu entfernen, um nicht von den Wellen dagegen geworfen zu werden. Doch wo sollte er hin?
In seinen Ohren schwoll ein Rauschen an. Dies war nicht das Geräusch der Wellen, es war das Pulsieren seines eigenen Blutes. Seine Füße fühlten sich eigenartig warm an, obwohl das Meerwasser ihm einen eisigen Schock versetzt hatte, als er über Bord gegangen war. Dies durfte nicht das Ende sein, sagte er sich immer wieder. Doch statt sich von den Klippen zu entfernen, wurde er wie von einer unsichtbaren Hand immer näher an sie herangetragen. Abermals schluckte er Wasser. Schwärze legte sich über ihn, erst vor seine Augen, dann vor seinen Geist. Eine tiefe Ruhe überkam ihn, eine Ruhe, die etwas Endgültiges an sich hatte. Nun war er befreit und geborgen, für die Gegenwart und für die Zukunft, für friedliche und für stürmische Zeiten.
VIII.
Der Siebenschläfer
Keuchend schreckte Jonathan aus dem Schlaf hoch. Seine Haare, das Nachtzeug, das Laken: Alles warnass, gerade so, als hätten ihn die Fluten seines schrecklichen Traumes direkt auf das Bettlaken gespült. Hastig stieß er die Bettdecke beiseite – zu sehr erinnerte ihn ihre Umklammerung an das alles erstickende Leichentuch des Meeres, das ihn in seinem Traum umfangen hatte. Er atmete schwer. Noch immer rann ihm der Schweiß über Gesicht und Rücken.
Draußen, vor dem Fenster, herrschte noch tiefe Dunkelheit. Jonathan saß in seinem Bett und wäre vor Erschöpfung am liebsten wieder eingeschlafen, doch Angst hinderte ihn daran. Seine Träume hatten eine unerwartete Wendung erfahren. In all den Jahren zuvor hatte ihn der andere Yonathan stets begleitet – und nun war er im Meer versunken. Jonathan wusste nicht warum, aber er hatte das Gefühl, fast Angst, nie mehr zu erwachen, wenn er jetzt wieder einschliefe.
Während die Dämmerung langsam heraufzog und der junge Morgen seine Farbenpracht entfaltete, saß Jonathan in seinem Rollstuhl und versuchte seine Gedanken zu ordnen. So vieles verwirrte ihn. War er nicht vor zwei Tagen noch mit seinem Großvater zusammen gewesen? Hatte er sich nicht gestern mit Jimmy
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