Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
nicht noch einmal mir auszuweichen. Was beunruhigt dich?«
Jonathan begriff ja selbst nicht, was mit ihm vorgegangen war. Wie sollte er es da seinem Freund erklären? »Ich… ich weiß nicht mehr… ich meine, ich kann mich nicht mehr erinnern«, stammelte er.
Samuel fragte betont langsam: »Woran kannst du dich nicht mehr erinnern?«
Jonathan blickte nervös zu Samuel auf. »An die letzten Tage«, antwortete er beinahe flüsternd. »Ich erinnere mich nur noch daran, vor acht Tagen den Nachmittag mit Jimmy verbracht zu haben – aber mir ist so, als wäre es gestern gewesen. Ich hatte an diesem Tage meine Flöte verloren. Was seitdem geschehen ist, weiß ich nicht mehr. Mir fehlen einfach sieben Tage.«
»Du meinst, du kannst dich an nichts mehr erinnern?«, fragte Samuel.
Jonathan schüttelte langsam den Kopf. »An nichts mehr.«
Samuels Gesicht war so ernst wie schon lange nicht mehr. »Es ist eigentlich wirklich nichts geschehen, an das man sich unbedingt erinnern müsste«, sagte er, so, als wolle er sich selbst beruhigen. Doch dann fügte er hinzu: »Wie auch immer, wir müssen uns darum kümmern. Vielleicht bist du krank. Ich spreche mit Sir Malmek darüber, damit er einen Arzt rufen kann.«
Jonathan schüttelte hastig den Kopf. »Ich bin nicht krank! Ich möchte auch nicht, dass du mit Sir Malmek darüber sprichst.«
»Mein kleiner Prinz«, sagte Samuel liebevoll, »du weißt, dass ich immer auf deiner Seite gestanden habe – selbst, wenn dies nicht immer die Seite von Sir Malmek gewesen ist. Aber hier geht es um deine Gesundheit. Wie du weißt, steht es um diesenicht zum Besten. Wenn du wirklich der Überzeugung bist, dir seien einfach ein paar Tage abhanden gekommen, dann sollten wir schauen, wo sie geblieben sind.«
Samuel war anzuhören, dass es zwecklos wäre ihm länger zu widersprechen. Er meinte es gut mit Jonathan und es war alles andere als ein Vertrauensbruch, wenn er Sir Malmek von dem seltsamen Gedächtnisschwund seines Schützlings erzählte.
So gab Jonathan schließlich nach. »Ich verstehe nur den Traum nicht«, murmelte er vor sich hin.
Samuel stutzte. »Davon hast du mir noch gar nichts erzählt. War das wieder einer von diesen seltsamen Träumen, die du schon öfters gehabt hast?«
Jonathan erzählte kurz die Geschichte seiner Schiffsreise, auch das schreckliche Ende des Traumes.
»Das ist ernst«, kommentierte Samuel, als Jonathan zum Schluss gekommen war. »Ich bin kein Arzt. Aber manchmal hört man, dass die Träume der Menschen von irgendwelchen seelischen oder körperlichen Leiden beeinflusst werden.
Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn du dich einmal
gründlich von einem Arzt untersuchen lässt.«
Jonathan nickte nur schweigend.
»Komm! Jetzt sei nicht entmutigt. Du gehst jetzt erst einmal zum Frühstück und versuchst an etwas anderes zu denken.«
Die morgendliche Mahlzeit verlief in gewohnter Weise. Jonathan beobachtete seine Mitschüler und auch Sir Malmek aus den Augenwinkeln. Er forschte nach irgendeiner besonderen Reaktion, einem Blick oder einer Geste, welche verraten könnten, dass man sein plötzliches Erscheinen nach so langer Abwesenheit zur Kenntnis genommen hatte. Aber niemand verhielt sich ungewöhnlich – die Jungen schaufelten wie jeden Morgen das Frühstück in sich hinein, als könnten sie dadurch den gestrengen Heimleiter, Sir Malmek, persönlich schröpfen. Das Einzige, was Jonathan aus dieser schmatzenden und schlürfenden Meute Halbwüchsiger heraushob, war – abgesehen von seinem Rollstuhl natürlich – seine Appetitlosigkeit.
Im Anschluss an das Frühstück gesellte sich Jimmy zu Jonathan. Sein rothaariger Klassenkamerad war der Einzige gewesen, der ihn während des Essens mit einem flüchtigen Lächeln bedacht hatte. »Du siehst aus, als hätte es dir heute nicht geschmeckt«, stellte Jimmy gut gelaunt fest.
»Ich fühle mich nicht so besonders«, antwortete Jonathan.
»Wieso? Hast du Bauchweh?«
»Wenn ich deine Portion zum Frühstück verdrückt hätte, dann hätte ich wohl welches«, erwiderte Jonathan etwas ungeduldig. Jimmy erinnerte ihn stets an eine sommersprossige, siebenköpfige Raupe: Der unscheinbare, kleine Earl of Balmoral konnte das Vielfache seines Körpergewichts essen ohne sichtbar zuzunehmen. Demzufolge schienen Bauchschmerzen auch die einzige »Krankheit« zu sein, die ihn gelegentlich plagte.
Jimmy war nicht böse über Jonathans patzige Antwort. »Ich könnte schon noch etwas vertragen«, gab er stattdessen
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