Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Unruhe von ihm fern hielt.
IX.
Das Verborgene Land
Der Hüter im Ewigen Wehr
Stille umgab Yonathan, eine tiefe, sanfte Stille, und Dunkelheit umschloss ihn. So musste sich ein ungeborenes Kind fühlen, im sicheren Schoße seiner Mut. Allmählich drang ein Rauschen an sein Ohr, gleich einem rhythmischen Singsang schwoll es an und verebbte wieder, wurde lauter und leiser. Einen Wachenden hätte es vielleicht in Schlaf gelullt, doch Yonathan empfand es als Störung in seiner Ruhe. Zugleich mit dem säuselnden Gesang drängten Farben in die Dunkelheit: zunächst ein noch zögerliches, warmes Rot, dann ein aufdringliches, blendendes Gelb, ein giftiges Grün, schließlich ein schwächer werdendes, kühles Blau. Das Geräusch wurde stärker, wandelte sich in das Tosen eines Ozeans und die Farben überschlugen sich in schnellem Wechsel und stürzten zusammen in einem rotstichigen Grau.
»Yonathan! Yonathan! Nun wach schon auf«, drangen von fern her Worte in sein Bewusstsein. Kurz strich das Bild eines in eine Decke eingewickelten, traurig dreinblickenden Jungen an seinem Geist vorüber; der Junge saß am Fenster eines kleinen Zimmers auf einem eigenartigen Stuhl, der Räder statt Beine hatte. Dieses Rufen, dieser Junge – alles war so vertraut und doch auch fremdartig. Hier wollte er ein wenig verweilen, um sich auszuruhen.
»Yonathan, nun komm schon. Ich habe dich nicht aus dem Wasser gefischt, damit du mir hier stirbst. Wach schon auf. Wach bitte endlich auf!«
Wer rief ihn da? Yonathan kannte diese Stimme. Jetzt schüttelte ihn jemand kräftig. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig als nachzuschauen, wer da seine Ruhe so hartnäckig störte. Yonathan öffnete zaghaft die flimmernden Augenlider.
»Yonathan! Du lebst! Bin ich froh, dass du lebst.«
Der Störer umfasste nun mit kräftigem Arm Yonathans Schulter und brachte ihn zum Sitzen. Plötzlich war er gar nicht mehr so roh, geradezu liebevoll war er zu ihm. Wie schade, dass er ihn noch immer nicht erkennen konnte. Das wenige Licht, das an seine Augen drang, lieferte ihm nur ein verschwommenes Bild des Ruhestörers.
»Nun sag doch was, Yonathan. Du siehst ziemlich schlecht aus. Wie geht es dir denn?«
In einem plötzlichen Anfall von Übelkeit musste sich Yonathan übergeben. Ekel vor dem eigenen salzig-bitteren Gespei durchschüttelte ihn und ließ ihn so lange würgen, dass er glaubte auch die Hälfte seiner Eingeweide ins Freie befördert zu haben.
Zwar war Yonathans Blick kaum klarer geworden, aber ein Teil seines Geistes war wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Er konnte sich wieder erinnern: an die Wettfahrt der Weltwind mit der Narga, an seinen Sturz ins Wasser und daran, dass er eigentlich ertrunken war. Letzteres allerdings musste wohl ein Irrtum sein, denn wie könnte er Yomis Stimme hören, wenn er nun tot wäre?
»Dir muss ja ungeheuer übel sein!«, stellte diese Stimme erleichtert fest.
»Ungeheuer ist gar kein Ausdruck«, bestätigte Yonathan. Sein Rachen brannte beim Sprechen wie Feuer und er musste husten, was den Schmerz nur noch verstärkte.
»Sag jetzt nichts. Ruhe dich noch ein wenig aus, bevor wir…« Yomi sprach nicht zu Ende.
Yonathan wischte sich mit dem nassen Ärmel seines Mantels die Tränen aus den Augen; das salzige Meerwasser förderte aber sofort wieder neue zutage. Es dauerte einige Zeit, bis er Freund und Umgebung einigermaßen klar wahrnehmen konnte. Yomi kniete neben ihm und strahlte ihn an, glücklich darüber, seinen kleinen Gefährten wieder unter den Lebenden zu wissen. Sie befanden sich in einer Grotte, die sich flach und bogenförmig zum Meer hin öffnete – von dort aus drang auch das spärliche Licht in die Höhle. Die unregelmäßige Wölbung der felsigen Decke war fünfzehn, höchstens zwanzig Fuß hoch. Der Grund des dämmrigen Raumes war zum größten Teil vom Meer überspült; nur rechter Hand, da, wo Yonathan und Yomi ruhten, hob sich der Fels aus dem Wasser empor, glatt und sanft ansteigend, dann schnell steiler werdend, um schließlich Wand und Decke der Grotte zu bilden. Dort, oberhalb der beiden Freunde, lagen Geröll und Felsbrocken. Das Gestein machte einen instabilen Eindruck und drohte jederzeit herabzustürzen.
Yomis Stimme lenkte Yonathans umherschweifenden Blick ab. »Die Flut drückt das Meerwasser in die Grotte. Das war unser Glück und hat uns gerettet. Wenn wir uns aber nicht ziemlich schnell etwas einfallen lassen, dann sitzen wir in der Falle. Seit ich dich
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