Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Bemerkung Sir Malmeks auf, dieser würde umgehend Lord Jabbok über den Zustand seines Enkels und die Vorschläge des Arztes unterrichten – dann war es still.
Kurze Zeit später lugte Samuel Falters silberner Haarschopf durch den Spalt der noch immer offen stehenden Zimmertür. »Na, hast du etwa belauscht, was Sir Malmek und Dr. Dick miteinander besprochen haben?«
»Die Tür stand offen und sie haben ziemlich laut geredet.«
»Und da musstest du eben einfach mit anhören, was gesagt wurde.«
»Es ließ sich schwer vermeiden.«
»Und, freust du dich über die Neuigkeit?«, fragte Samuel.
»Ich kann es kaum abwarten!«, erwiderte Jonathan begeistert. »Hier, wo mich sowieso alle nur für einen unwichtigen Krüppel halten, hält mich im Augenblick nicht sehr viel… Außer dir natürlich«, beeilte sich Jonathan zu versichern, als er Samuels trauriges Gesicht sah. »Du bist – abgesehen von meinem Großvater vielleicht – mein bester Freund. Ich weiß jetzt schon, dass ich dich sehr vermissen werde, wenn ich in Jabbok House bin. Aber irgendwie wirst du trotzdem immer bei mir sein, Samuel, egal, wohin ich gehe.«
Nach kurzem Schweigen verhärtete sich Jonathans Miene wieder und er fügte hinzu: »Aber Dr. Dick hat heute einige Dinge gesagt, die mich sehr verletzt haben.«
»Er hat es sicher nicht so gemeint.«
»Sicher nicht.« Jonathan klang bitter. »Er scheint oftmals Dinge zu sagen, die er sich nicht so genau überlegt hat. Aber ich dachte, er könne mir vielleicht weiterhelfen. Stattdessen sagte er nur, dass ich es wohl nicht wert wäre mir mehr als die
unbedingt notwendige Aufmerksamkeit zu schenken.«
»Na, na, so hat er es ganz bestimmt nicht ausgedrückt.«
»So ähnlich aber schon«, beharrte Jonathan trotzig und berichtete von der Untersuchung. »Aber ich habe mir nichts gefallen lassen. Ich werde überhaupt allen zeigen, dass man auch im Rollstuhl ein vollwertiger Mensch ist«, schloss er und wischte sich schnell eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Du hast keinen Grund dich wegen irgendetwas zu verstecken«, sagte Samuel und setzte sich zu Jonathan. »Aber die studierten Leute glauben meist nur das, was ihnen ihre Wissenschaft erlaubt zu glauben. Selbst, wenn alle Anzeichen gegen ihre Lehrmeinung sprechen, beharren sie oft noch eigensinnig auf ihrem Standpunkt, weil er ihnen bequemer erscheint – die Wahrheit ist nämlich oft sehr unbequem, musst du wissen. Auch ich kann mir einen derart wundersamen Schlaf, hinter dem eine höhere Absicht liegen sollte, schwer vorstellen. Aber ich maße mir doch nicht an, darüber zu urteilen. Es geschehen zu viele Dinge, die wir uns nicht erklären können.«
»Ehrlich gesagt fällt es mir ja selbst schwer zu glauben, dass ich die vergangene Woche so einfach verschlafen haben soll. Aber dieser Schlaf – oder besser gesagt, dieser Traum – irgendetwas stimmt nicht daran. Ich kann es selbst nicht erklären.«
»Grübel nicht zu viel darüber nach, Jonathan. Denke lieber daran, dass du bald dein Zuhause wieder sehen wirst. Dein Großvater wird sich sicherlich freuen, bald wieder mit dir zusammen zu sein.«
Jonathan nickte. »Du hast Recht. Ich will versuchen es einfach zu vergessen.«
Am Abend desselben Tages saß Jonathan allein am Fenster seines kleinen Zimmers. Er hätte längst schlafen sollen – aber er konnte nicht.
Eigentlich traute er sich nicht. Die Erinnerung an den schrecklichen Traum, dem er sich an diesem Morgen scheinbar nur mit Mühe hatte entwinden können, war noch zu lebendig. Selbst Samuel hatte er sich in dieser Angelegenheit nicht voll anvertraut. Er glaubte noch immer die klammen Finger des Todes auf seinem Herzen zu spüren. Unbewusst fürchtete er, sein morgendliches Erwachen könnte nur ein Aufschub gewesen sein, eine Galgenfrist, die endgültig abliefe, wenn er sich jetzt dem Schlaf überließe.
So saß Jonathan, in eine Decke eingewickelt, vor dem Fenster und starrte mit immer schwerer werdenden Augenlidern in die Nacht hinaus. Im Haus war längst alles still. Auch er hatte das Licht gelöscht. Nur die Dunkelheit teilte seine trüben Gedanken mit ihm.
Später, viel später, begannen seine Ohren zu rauschen. Er hörte sein eigenes Herz schlagen. Jonathan kämpfte, doch es war ein vergeblicher Kampf. Den »kleinen Bruder des Todes« nannte man den Schlaf. Wenn so der Tod war, dann konnte er Jonathan nicht schrecken. Schließlich umfing ihn ein tiefer Schlummer wie ein weicher, warmer Umhang, ein Mantel, der alle Kälte, alle
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