Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
wieder in den Griff. Irgendwann wacht jede Schlafmaus wieder auf – oder sagen wir: fast jede.«
Jonathan antwortete mit einem Blick, der, könnte er Dinge in Luft auflösen, nicht nur Dr. Dick, sondern auch die Wand hinter ihm in nichts verwandelt hätte.
Sein Gespür sagte dem Doktor, dass es an der Zeit war die Unterhaltung zu Ende zu bringen. »Ich spreche dann noch mit Sir Malmek über alles Weitere. Wir ruhen uns in der nächsten Zeit ein wenig aus und dann geht es uns bald wieder besser. Auf Wiedersehen, mein Junge.«
Ohne eine Antwort Jonathans abzuwarten, erhob sich der Arzt von seinem Stuhl und verließ eilig den Raum. Dabei versäumte er die Tür zu schließen, sodass Jonathan mit anhören konnte, was Dr. Dick und Sir Malmek draußen auf dem Flur miteinander besprachen.
Nachdenklich konstatierte der Arzt: »Ich bin kein Psychoanalytiker, aber es hat den Anschein, als würde der Junge unter einer hysterisch bedingten anterograden Amnesie leiden. Einige Symptome sprechen auch für das Vorliegen des Korsakoff-Syndroms; ich sehe allerdings keine Ursachen, welche dies hervorgerufen haben könnten, organisch scheint – man müsste eine genauere Untersuchung natürlich abwarten – bei dem jungen Lord Jabbok alles in Ordnung zu sein.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Offenbar konnte Sir Malmek mit dieser Diagnose nicht sehr viel anfangen. Erläuternd fügte der Arzt hinzu: »Also ich denke, der Junge hat nichts wirklich Schlimmes. Sein Erinnerungsverlust beschränkt sich auf einen eng umgrenzten Zeitraum. Die Ursache dafür muss nicht unbedingt in einer Erkrankung des Körpers liegen. Er könnte auch etwas durchgemacht haben, was ihn so sehr mitgenommen hat, dass sich sein Geist weigert sich daran zu erinnern. So etwas ist eine ganz normale Schutzreaktion gegenüber bedrohlichen Erinnerungen, die auf diese Weise unbewusst verdrängt werden. Sagen sie, Sir Malmek, gab es in letzter Zeit irgendeine besondere Aufregung oder Anstrengung für den Jungen?«
»Nun…« Sir Malmek zögerte, »es gab einen Streit mit Pastor Garson. Sogar der alte Lord Jabbok, der uns in der letzten Woche besuchte, griff in den Disput ein. Ich denke aber, dass für den Jungen alles zum Besten geregelt wurde.«
»Man weiß nie, was in den Kindern so alles vorgeht. Vielleicht hat das Ganze den jungen Jabbok mehr aufgeregt, als alle vermuten. Seine Behinderung könnte ihn gegenüber solchen Belastungen seelisch wesentlich anfälliger machen, als es bei einem gesunden Knaben der Fall wäre. Obwohl ich, wie schon erwähnt, keine eigentliche Krankheit feststellen konnte, macht der Junge doch im Allgemeinen einen sehr schwächlichen und anfälligen Eindruck. Wie macht er sich denn im Unterricht?«
»Das ist es ja«, entgegnete Sir Malmek, als müsse er sich entschuldigen, »er liefert nur die besten Noten ab. Er ist – ich muss es zugeben – seinen Mitschülern in allen Fächern weit voraus.«
»Das ist gut«, stellte Dr. Dicks Stimme zufrieden fest. »Dann dürfte es ja keine Schwierigkeiten bereiten, ihn zur Erholung nach Hause zu schicken. Die Luft im Hochland mag ihm gut tun und sein Großvater wird sich sicherlich intensiver um ihn kümmern können, als es bei den besten Vorsätzen, die ich Ihnen nicht absprechen möchte, hier im Hause möglich wäre.«
Sir Malmek schien dieser Vorschlag nicht zu passen. »Es ist eigentlich nicht üblich, dass die Schüler im laufenden Schuljahr beurlaubt werden; dafür sind die Ferien gedacht.«
Er hat ja nur Angst, dass ich nicht mehr wiederkomme und er dann ohne Großvaters Geld zurechtkommen muss, dachte Jonathan ärgerlich.
Dr. Dick schien in dieser Angelegenheit aber durchaus auf Jonathans Seite zu stehen. »Wollen Sie, dass die Erkrankung Ihres Schülers fortschreitet und Sie ihn für ihr Haus womöglich gänzlich verlieren?«, fragte er aufbrausend.
»So ernst habe ich seinen Zustand nicht angesehen«, entschuldigte sich Sir Malmek eilig.
»Nun, wenn es doch auch im Augenblick nicht so ernst scheint, könnte doch die allgemein anfällige Konstitution des Jungen schnell zu einer Verschlechterung führen. Wenn sich ähnliche Symptome nochmals zeigen, empfehle ich ihn von einem Spezialisten untersuchen zu lassen – an der Universität in Edinburgh haben wir einige sehr fähige Neurologen und Psychoanalytiker.«
Sir Malmek und Dr. Dick entfernten sich langsam von der Tür zu Jonathans Kammer. Aus ihrer stetig leiser werdenden Unterhaltung schnappte Jonathan gerade noch die
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