Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
standen sie vor einem hohen, länglichen Felsen, der wie der Daumen eines Riesen vor der Höhlenwand aufragte. Yonathan zwängte seinen Kopf zwischen Fels undWand hindurch. Dann rief er aufgeregt: »Da ist eine Öffnung! Wie ich vermutet habe. Hinter diesem Felsen befindet sich noch eine Höhle.«
Nachdem auch Yomi sich von der Entdeckung überzeugt hatte, versuchten sie den Felsenfinger aus dem Wege zu räumen. Wenn es ihnen gelänge ihn die Felsplatte hinabzustoßen, dann wäre der Weg in die andere Höhle frei. Doch bei aller Kraft, die ihnen ihre neue Hoffnung einflößte, blieb ihr Mühen vergeblich – des Riesen Daumen wollte sich nicht rühren, nicht um Haaresbreite.
Entmutigt rutschten die Gefährten wieder auf das flachere Felsstück hinab und hockten ratlos nebeneinander. Keiner sprach ein Wort. Das Wasser war inzwischen weiter angestiegen und leckte an der ersten Kiste, die Yomi aus den Fluten gerettet hatte.
»Es hat keinen Zweck hier herumzusitzen und darauf zu warten, bis uns das Wasser bis zum Halse steht«, sagte Yonathan schließlich. »Lass uns erst mal nachschauen, was wir von den Gegenständen der Weltwind noch gebrauchen können
– bevor das Meer es sich holt. Vielleicht fällt uns dann noch etwas ein, wie wir den Felsen da oben vom Fleck bewegen können.«
Sie durchsuchten die armseligen Reste der Fracht, nahmen ein Tau, ein paar Feuersteine, Decken und anderes, das sich auf einer längeren Wanderung als nützlich erweisen könnte. Das Wasser schritt derweilen unaufhörlich voran, sodass das ihnen verbleibende Stückchen Fels immer schmaler und steiler wurde.
Mit den wenigen Habseligkeiten, die sie aufgelesen hatten, kehrten sie zu der Felsnadel zurück, die den Eingang zur Nebenhöhle versperrte. Von neuem schoben und zogen die Gefährten mit der Kraft der Verzweiflung, aber der Fels blieb standhaft, als wäre er im Bunde mit dem ansteigenden Meer. Die Zeit schritt über ihren erfolglosen Versuchen erbarmungslos voran, das Wasser tastete bereits nach ihren Füßen und am anderen Ende der Grotte zwängte sich das Tageslicht nur noch durch einen schmalen Schlitz in ihr feuchtes Gefängnis.
Das Messer!, blitzte es durch Yonathans Kopf. Es konnte Stein schneiden. Schnell griff er an seinen Gürtel und tatsächlich befanden sich dort noch Messer und Beutel, die beiden wundersamen Gegenstände von Navran Yaschmon. Er zog den Dolch aus seiner Scheide.
Yomi schaute ihn verwundert an. Bisher war ihm das Messer am Gürtel Yonathans nicht aufgefallen. »Was hast du denn mit dem Dolch vor? Willst du etwa den Felsen zerschneiden?«, fragte er verwirrt.
»Genau.«
»Aber du kannst doch nicht mit einem Messer…!« Weiter kam Yomi nicht. Ungläubig sah er zu, wie Yonathan den Dolch langsam aber stetig in das Gestein am Fuße des Felsfingers versenkte und ihn dann um diesen herumführte. »Das kann nicht sein«, murmelte Yomi vor sich hin. »Ich habe Halluzinationen. Hast du den Felsen in Käse verwandelt? Ich glaube, es geht mit mir zu Ende.«
»Red keinen Unsinn, Yo. Hilf mir lieber«, forderte Yonathan ihn auf, während er sich schon wieder gegen den Fels stemmte.
Der jedoch stand unverrückbar an seinem Platz.
»Sein Sockel ist einfach zu breit«, stellte Yonathan entmutigt fest. »Ich kann den Dolch gar nicht tief genug in den Fels treiben, um ihn zu lockern. Die Zeit reicht uns auch nicht ihn auszukerben. Schau! Das Wasser hat schon den Schnitt erreicht, den ich eben gemacht habe. Warum bin ich nur nicht früher auf den Dolch gekommen!«
Yomi sagte nichts. Er starrte Yonathan an, als sähe er ein Gespenst.
Yonathan wollte nicht aufgeben. Eine verzweifelte Wut packte ihn. Dies durfte nicht das Ende sein! Nicht das erste Mal hatte er sich dies auf seiner Reise gesagt und bisher hatte es immer einen Ausweg gegeben. Er erinnerte sich an die Wettfahrt mit der Narga, an die unheimliche Stimme, die in die Köpfe der Seeleute gedrungen war, um sie zur Aufgabe zu zwingen. Aber sie hatten nicht aufgegeben. Und auch diesmal dachte er nicht daran. Sicher, seine und Yomis Kräfte konnten sie nicht retten, aber es gab eine Macht – dessen war Yonathan sich sicher –, die ihnen den Weg bahnen könnte. Wie hieß es doch im Sepher Schophetim, dem Buch der Richter Neschans? »Für alles bin ich stark durch den, der mir Kraft verleiht.«
Mit aller Kraft stemmte sich Yonathan ein letztes Mal gegen die Felsnadel; er sandte ein Stoßgebet aus. Yomi schaute tatenlos zu und schüttelte mitleidig den Kopf. Da
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