Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
jungen Männer in ihrer Geburtsstadt Ephesus. Obwohl Ephesus eine griechische Stadt war, verfolgten die Römer die Christen auch in Kleinasien. Man verriet den Nachbarn und den Verwandten. Man trieb die Christen zusammen, warf sie wilden Tieren vor oder tötete sie auf andere grausame Weise. Die Sieben versteckten sich zunächst in ihren Häusern und trauten sich nur noch nachts ins Freie. Doch bald war auch das zu gefährlich und so flohen sie gemeinsam aus der Stadt und fanden schließlich ein sicheres Versteck: eine Höhle, in der sie niemand vermutete. Kaum befanden sie sich in der dunklen, stillen Sicherheit ihres neuen Versteckes, da überfiel sie ein übernatürlicher Schlaf. Später wurde die Höhle dann doch entdeckt und man versiegelte sie. So schliefen die sieben Jünglinge weiter, Tag um Tag, Monat um Monat und Jahr um Jahr.
Fast zweihundert Jahre vergingen über ihrem wundersamen Schlaf, bis man die Höhle wieder öffnete. Darauf erwachten die jungen Männer und traten ans Tageslicht. Die Welt hatte sich verändert. Zu dieser Zeit ging die Macht von Konstantinopel aus, der Hauptstadt des nun christlichen, oströmischen Reiches. Als der damalige Kaiser Theodosius II. von den sieben Schläfern von Ephesus erfuhr, war er sehr beeindruckt von diesem machtvollen Beweis der Lehre der Wiederauferstehung. Die sieben wieder erwachten Schläfer jedoch lebten nicht mehr lange. Die Legende erzählt, dass sie den erstaunten, ehrfürchtigen Zuhörern erklärten, was an ihnen geschehen war – nämlich dass die Toten in einem wiederhergestellten Leibe auferstehen würden, nicht in einer Seele, welche vom Leib getrennt weiterexistiert. Anschließend starben sie, umgeben von einem übernatürlichen Licht.
Theodosius ließ sie in kostbaren Schreinen beisetzen und sprach alle Bischöfe frei, die wegen ihres Glaubens an die Auferstehung des Körpers verfolgt worden waren.«
Nachdem Jonathan seine Erzählung beendet hatte, herrschte Schweigen in der kleinen Kammer. Dr. Dick blickte nachdenklich vor sich hin. Endlich durchbrach er die Stille. »Wir scheinen ja ein wandelndes Geschichtsbuch zu sein. Alle Achtung!«
Jonathan zuckte verlegen mit den Schultern, schwieg aber weiter.
»Und was, meinen wir, will uns die Geschichte wohl sagen?«
Jonathan lächelte verlegen. Er hatte Hemmungen, das auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging. »Dieser Schlaf«, begann er zaghaft, »könnte es so etwas geben? Ich meine, könnte es sein, dass man eine längere Zeitperiode – und sei es nur eine Woche – so durchschläft, als wäre es nur eine Nacht?«
»Aha«, erwiderte Dr. Dick lang gezogen, »jetzt begreife ich, worauf wir hinauswollen. Mein Junge, ich bin zwar gottgläubig, aber an solche Wunder glaube ich nun doch nicht. Und außerdem: Warum sollte Gott gerade dir einen solchen Schlaf bescheren? Die sieben Schläfer mögen ja gemäß der Legende noch eine wichtige Aufgabe erfüllt haben – sie trugen zur Klärung einer Glaubensfrage bei –, aber was für eine Rolle solltest du in seinen Plänen spielen?«
Jonathan biss sich auf die Unterlippe. Schon bereute er dem Arzt seine verborgensten Gedanken auch nur angedeutet zu haben. Es war nicht zu überhören, wie Dr. Dick mit einem Mal von dem sonst so gutmütigen Plural in die distanzierte zweite Person gewechselt war. Die Feststellung, dass ein kränklicher Junge im Rollstuhl wohl kaum die Aufmerksamkeit des höchsten Wesens im Universum für sich in Anspruch nehmen konnte, stand ihm in den zuckenden Mundwinkeln geschrieben.
Schnell erkannte Dr. Dick, dass Jonathan sich von nun an weigern würde, auch nur noch ein Wort zu sprechen. Weiterhin gestand sich der erfahrene Arzt ein, dass er sich allzu sehr hatte anmerken lassen, wie lächerlich ihm Jonathans Gedanken erschienen. In einem letzten Versuch die Situation zu retten, fügte er versöhnlich hinzu: »Ich glaube unser Schlaf ist eher mit dem der Schlafmäuse zu vergleichen. Manchmal liegen sie sieben Monate lang in ihrem Nest und wachen höchstens auf, um sich den Magen zu füllen. Deshalb hat man ihnen in der deutschen Sprache auch den Namen ›Siebenschläfer‹ gegeben, genauso, wie die Legende heißt, von der wir vorhin in so beeindruckender Weise erzählt haben. Nur hat der Schlaf dieser Mäuse so ganz und gar nichtsÜbernatürliches an sich, auch dann nicht, wenn sie nach ihrem Erwachen, genau wie wir, zunächst etwas durcheinander sind. Aber keine Bange, das braucht uns nicht zu bekümmern, wir bekommen das schon
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