Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
überhaupt nicht erinnern. Yonathan oder meine Träume, wie immer man will, haben sie mir geraubt. Natürlich war ich beunruhigt darüber und habe Großvater aus irgendeinem Grunde versichert, dass ich ihn niemals verlassen würde, ohne ihm eine Nachricht oder zumindest ein Zeichen zu hinterlassen. Aber er hat nur gelächelt – so, wie es wahrscheinlich alle Großväter tun-und versucht mich zu trösten. ›Bald wird es dir wieder besser gehen‹, versprach er mir. Oh, wenn er mich doch nur verstehen könnte!
Immerhin hat Großvater mir inzwischen die erfreuliche Nachricht eröffnet, dass ich nicht mehr ins Knabeninternat zurückmuss. Wegen meiner Krankheit will er mir einen Privatlehrer suchen. Gerade heute stellte sich ein gewisser Mr. Dodger vor, ein Mann wie eine Bulldogge, der noch immer in der Vorstellung lebt, dass die Stärke Großbritanniens, die die Armeen einst mit ihrem Blut erkauft hatten, irgendwann wieder zurückkehren wird. Ich habe ihm einige unangenehme Fragen zu dem Blutvergießen des Großen Krieges gestellt und seine Antworten waren wohl selbst für Großvater zu heroisch, als dass er seinen Enkel einem solchen Mann anvertrauen mochte. Mr. Dodger ist noch heute Abend wieder abgereist.
Nachdem dieses Problem gelöst ist, kann ich jetzt wohl getrost zu Bett gehen. Ich muss unbedingt wissen, was Yonathan auf der anderen Seite vom Tor im Süden erleben wird.«
Jonathan schlug das Tagebuch zu und blickte seinen Großvater erwartungsvoll an.
Die dunklen Augen des Lords funkelten im Widerschein des Kaminfeuers. »Hast du wirklich das Gefühl, von mir nicht richtig verstanden zu werden?«
»Ich weiß ja, dass meine Träume alles andere als normal sind«, antwortete Jonathan. »Aber sie sind nun mal ein wichtiger Teil von mir selbst – vielleicht wichtiger als bei sonst irgendjemand.«
Der alte Lord nickte ernst. »Wenn sie für dich so wichtig sind, dann sind sie es auch für mich, mein Sohn. Sobald du mehr von deinem Traumbruder erfährst, musst du es mir unbedingt erzählen. Ich verspreche dir auch feierlich, dass ich dich nicht auslachen werde.«
I. Auf dem Rücken eines Traumes
Abstieg
»Warum grinst du eigentlich so unverschämt?« Yonathan schlug die Augen auf, gähnte lange und streckte sich. Dann zuckte er die Achseln und meinte: »Weiß nicht, muss wohl irgendwas Lustiges geträumt haben.«
»Ich verstehe das nicht«, klagte Yomi. »Ich habe die ganze Nacht vor Kälte kein Auge zugetan und du schläfst wie ein Murmeltier – und lächelst auch noch dabei!«
»Vielleicht war ich in einer anderen Welt. Irgendwo, wo es wärmer ist als hier.«
Yomi musterte seinen jüngeren Gefährten, als sei er betrunken oder habe den Verstand verloren.
»Ach, nichts. Vergiss es einfach«, sagte Yonathan.
Nach dem kurzen, herzbewegenden Abschied von Din-Mikkith und Girith waren Yonathan, sein Masch-Masch und Yomi noch ein gutes Stück talwärts geklettert. Sie hatten sich vorgenommen die Schneegrenze noch vor Einbruch der Dunkelheit hinter sich zu lassen, um nicht während der Nacht im ewigen Eis zu erfrieren. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatten, waren die Schwierigkeiten des Abstiegs.
Zunächst tasteten sie sich vorsichtig über eine Gletscherzunge aus grünlich schimmerndem Eis. Einem kurzen Anstieg folgte ein gefährlich abschüssiges Stück und dann schlitterten sie blind in die Wolkendecke hinein, die den Berg wie ein feuchter Schal umfing. Die Welt um sie herum war mit einem Mal unwirklich geworden. Auf wackeligen Beinen – die Anstrengungen der letzten Tage machten sich jetzt doch bemerkbar – stolperten sie an tiefen Spalten vorbei. Weil ihnen ihr Seil während der Auseinandersetzung mit Sethur abhanden gekommen war, hielten sie sich an den Händen; so würden sie sich wenigstens nicht verlieren. Selbst Gurgi, der Masch-Masch, spürte die Gefahr und kauerte bewegungslos in der Hemdfalte an Yonathans Brust.
Endlich, nach einem quälend langen Marsch, spürten sie wieder Steine und Geröll unter ihren Füßen. Der Bann des ewigen Eises war gebrochen. Wenig später blieb auch der Wolkenschleier hinter ihnen zurück. Aber die Sonne war inzwischen untergegangen. Der ersehnte Blick auf den glitzernden Golf von Cedan fiel somit vorerst aus. Dafür krochen Schatten aus der Dunkelheit wie riesenhafte Kröten. Nichts als Felsen oder Erdmulden, machte Yonathan sich Mut.
Seine Aufmerksamkeit war so von diesen drohenden Schemen gefesselt, dass er erst spät das
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