Nesthäkchen 01 - Nesthäkchen und ihre Puppen
es sich wie ein Schnellzug anhörte. Und die übrigen Kinder umstanden die schwarze Grete, die geschwätzige Elster, die in einem Käfig an dem Pförtnerhäuschen wohnte und so stolz tat, als ob sie selbst der Pförtner sei. Sobald einer das Haus betrat, rief der Vogel mit krächzender Stimme höflich: »Wohin wünschen Sie, mein Herr?«
Ach, wer doch auch da unten sein dürfte! Mutti erlaubte es nicht, daß ihr Nesthäkchen auf dem Hof spielte, und es fand es dort tausendmal lustiger als im Tiergarten.
Plötzlich wurde die kleine Gesellschaft drunten noch lebhafter als zuvor. All die blauen, grauen und braunen Kinderaugen wandten sich mit seligem Aufleuchten einem ziemlich zerlumpten, alten Manne zu, der den Hof betrat. Auf dem Rucken trug er einen großen Kasten und in der Hand ein hölzernes Gestell.
»Der Leiermann - der Leiermann ist da!« klang es jubelnd vom Hof herauf.
Auch Annemarie klatschte vor Freude in die Hände, und sämtliche Köchinnen machten ihre Küchenfenster auf und guckten heraus.
Der Leiermann stellte sein Gestell auf, setzte den Kasten darauf, drehte die Kurbel »Dudel-Dudel-Leierkasten« - und da begann das Konzert auch schon.
Erst ein lustiger Walzer, die Kinder drunten im Hof begannen zu tanzen.
Geheimrats dicke Köchin wiegte sich bei ihrer Speise in den Hüften, die Auguste ließ ihr Plätteisen über die Wäsche tanzen, der blasse Rolf trommelte dazu an die Fensterscheibe, Annemarie aber drehte ihre Puppen nach der schönen Musik und dachte voll Inbrunst: »Ach, wenn ich doch ein Hausmeisterkind wäre und da unten mittanzen könnte!«
Als der Leiermann geendet, flogen aus vielen Fenstern in Papier gewickelte Geldstücke herunter, die er dankend aufsammelte, wobei ihm die Kinder halfen.
Auch Annemarie lief zu Mutti, die mit Fräulein die Wintersachen gegen Motten verwahrte. Da roch es ganz abscheulich nach Kampfer und Pfeffer und krabbelte in dem Naschen.
»Hatschi«, nieste die Kleine. »Mutti, ach, bitte, schenke mir doch einen Sechser für den Leiermann unten - hatschi.«
Mutti lachte über ihr niesendes Töchterchen und gab Nesthäkchen das gewünschte Geldstück.
Eifrig lief die Kleine damit zu ihrem Gärtchen zurück. Sie wickelte das Geld in Zeitungspapier und - da sauste es durch die Luft. Hops, ging die Reise weiter in den Springbrunnen hinein, daß das Wasser aufspritzte.
Der Karl fischte das Geld aus dem flachen See und legte es auf den Leierkasten.
»Schönen Dank auch, kleines Fräulein!« rief der Leiermann herauf und nahm sogar seinen verbeulten Hut ab. Dann spielte er einen feinen Galopp.
Hoppla - wie die Böcklein sprangen die Jören unten auf dem Hof durcheinander - hoppla - noch viel ausgelassener hopsten oben die Puppenjören.
Gerda galoppierte mit dem wilden Kurt das Blumenbrett entlang, da rief sie plötzlich: »Mein Schuhchen - mein Goldkäferschuhchen!«
Sie sowohl wie ihr Mütterchen spähten erschreckt durch das Eisengitter herab. Da sahen sie gerade noch ein kleines, goldbraunes Ding unten auf dem Rasen landen.
Ratlos sahen die beiden sich an.
Da tat Annemarie ihr Nesthäkchen leid. Sie nahm es auf den Arm und sagte:
»Komm, wir wollen Hanne bitten, daß sie dir das Schuhchen wiederholt.«
Aber die Küche war leer.
Noch einen Augenblick überlegte Annemarie zaudernd, dann stand sie an der Küchentür und - husch - husch - da war sie auch schon mit Gerda die Hintertreppe hinab.
Ihr Herz klopfte sehr laut; denn die Kleine wußte sehr wohl, daß sie etwas Verbotenes tat.
Bald hatte Gerda ihr Goldkäferschuhchen wieder an und wäre am liebsten schnell wieder hinaufgelaufen, aber ihre kleine Mama dachte nicht daran. Die ließ sich zuerst laut jauchzend von dem kleinen steinernen Nackedei im Springbrunnen bespritzen, dann tanzte sie mit Paule einen Walzer, und schließlich hopsten die nackten Beinchen von Doktors Nesthäkchen am übermütigsten unter all den anderen Kinderbeinen umher.
Amanda hatte Gerda auf den Arm genommen und strich bewundernd über ihr feines Kleid, und all die anderen kleinen Mädchen standen herum und blickten voll Neid auf die schöne Lockenpuppe.
Der Leiermann hatte inzwischen seinen Kasten wieder aufgeschnallt und machte Miene, ein Haus weiterzugehen. Die Kinder liefen alle hinterdrein.
Annemarie überlegte keinen Augenblick. Sie faßte ihre Gerda an die Hand und lief hinter den fremden Kindern her.
Währenddessen trat Fräulein oben in die Kinderstube und sagte: »So, Annemariechen, jetzt bin ich fertig, nun
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