Nesthäkchen 01 - Nesthäkchen und ihre Puppen
wollen wir uns anziehen und Spazierengehen.«
Aber keine Annemarie saß auf dem Blumenbrett.
Gewiß hatte sich der Kobold wieder irgendwo versteckt, und Fräulein sollte sie suchen. Aber weder unter dem Bett, noch hinter dem Spielschrank war Annemarie zu finden. Ob Fräulein auch noch soviel rief:
»Annemariechen, Kind, es wird zu spät!« keine Annemarie kam zum Vorschein.
Fräulein Lena begann das Herz vor Angst zu schlagen. Vom Blumenbrett konnte das Kind nicht heruntergefallen sein, es war ja bis obenhin vergittert. Der Hof war leer.
Hätte Fräulein bloß die Puppen nach Annemarie gefragt, die hätten schon gewußt, wo ihr Mütterchen geblieben war, aber daran dachte Fräulein Lena nicht.
Die lief in höchster Aufregung zur Mutter und rief: »Gnädige Frau, unsere Annemarie ist fort!«
Mutti wurde ganz blaß vor Schreck, dann aber sagte sie, sich selbst beruhigend: »Ach was, Fräulein, das Kind wird in der Küche sein.«
»Hanne ist einholen gegangen.« Trotzdem jagte Fräulein in die Küche, und Frau Braun hinterher. Da fanden sie die offene Küchentür.
Nun war es ja klar - Annemarie war fortgelaufen!
»Vielleicht hat der Hausmeister sie gesehen, wenn sie die Hintertreppe hinuntergelaufen ist, wir wollen ihn doch jedenfalls fragen«, riet Fräulein Lena. Damit eilten beide Damen die Hintertreppe hinab.
Der Hausmeister hatte viele Kinder auf dem Hofe gesehen, aber ob Doktors Kleine dabeigewesen, das wußte er nicht genau.
Da erschien, gerade als Mutti in ihrer Angst zur Polizei laufen wollte, Hanne mit ihrem Einkaufskorb auf dem Hofe. Und wer lief nebenher, mit heißen Wangen und glänzenden Augen? Das ausgekniffene Nesthäkchen, welches das Mädchen auf der Straße aufgelesen und mit heimgebracht hatte.
»Mutti - war das fein - wir haben nach dem Leierkasten getanzt«, rief die Kleine selig.
Mutti aber nahm ihr Töchterchen fest an die Hand, und sagte mit einem Gesicht, das nichts Gutes verhieß: »Wir sprechen uns oben!«
Ach, das wurde eine ernste Unterhaltung zwischen Mutti und ihrem Nesthäkchen.
Die kleine Ausreißerin durfte mittags nicht zu Tisch kommen, sie mußte in ihrem Kinderzimmer allein mit Gerda essen. Wie schämten sich die beiden vor Vater und vor den Jungen.
Der Mohrenkopf
»Wir kriegen Besuch - Tante Albertinchen kommt heute!« Jubelnd tanzte .Annemarie durchs Zimmer.
Tante Albertinchen war eine liebe alte Dame. Annemarie freute sich jedesmal, wenn sie zu Besuch kam. Da durfte sie ins Speisezimmer kommen, »Guten Tag« sagen und auch ein Weilchen drin bleiben, weil sie Tante Albertinchens Liebling war. Und es gab jedesmal Kuchen und Schlagsahne.
Heute hatte Nesthäkchen, bevor die Tante noch eintraf, prüfend den Kaffeetisch in Augenschein genommen.
Mmmm - der große Mohrenkopf und daneben die prächtige Marzipankartoffel, die beiden stachen der Kleinen in die Augen.
»Mutti, kriegen wir heute auch Kuchen?« erkundigte sie sich erwartungsvoll.
»Wenn Tante Albertinchen noch etwas übrigläßt!« lächelte Mutti.
»Och, das kann sie doch gar nicht alles aufessen! Weißt du, Muttichen« - jetzt hatte das kleine Mädchen einen Ausweg gefunden - »du könntest ja vielleicht an den Mohrenkopf oder an die Marzipankartoffel oder vielleicht auch an beides ein Zettelchen mit meinem Namen ankleben, damit Tante Albertinchen gleich Bescheid weiß, daß sie für mich bestimmt sind.«
»Sie sind aber gar nicht für dich bestimmt, Lotte, sondern für die Tante!« lachte Mutti.
Damit mußte sich Annemarie bescheiden.
Fräulein Lena steckte ihr, Tante Albertinchen zu Ehren, Schnecken über den Ohren auf und band eine rosa Seidenschleife hinein.
»So, nun mache dich ja nicht schmutzig, Annemariechen, ich muß den Damen jetzt den Kaffee auftragen«, sagte das Fräulein ermahnend.
»Was spielen wir nun, bis Fräulein wiederkommt?« wandte sich Annemarie an ihre Puppen und sah sich unschlüssig in der Kinderstube um. »Radau dürfen wir nicht machen.«
Da flog ihr Blick über ein kleines Buch, das zwischen den Baukästen hervorlugte.
»Au ja - Abziehbilder!«
Großmama hatte ihr neulich das Büchlein mitgebracht. Aber sie war noch gar nicht dazu gekommen, die Bilder abzuziehen. Dabei tat sie das doch so schrecklich gern. Erst das feine Panschen und dann die Aufregung, in was für ein Bild sich das weiße Papier wohl verwandeln würde.
Annemarie schleppte geschäftig ihren Seifen-Napf mit Wasser zum Kindertisch und rückte Gerda mit ihrem Stühlchen heran, damit die zugucken
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