Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
»Kinderfleisch wandert nicht weit«, tröstete Großmama, die natürlich bei dem Empfang nicht fehlte. Großmama war eine kluge Frau, aber diesmal irrte sie sich. Annemarie erholte sich schwer. Ihre einst so drallen Beinchen sahen wie Zahnstocher aus. Ob Hanne auch die kräftigsten Happen für »ihr Kind« kochte, ob Mutti sie auch wie einen Säugling mit Milch, die Annemarie nicht mal mochte, päppelte: die alte Frische wollte nicht wiederkehren.
Die Brüder fanden, daß Annemarie »quarrig« geworden sei. Hans war schon groß genug, um dies auf die überstandene Krankheit zu schieben. Klaus aber, dessen zarte Rücksichtnahme sich bald legte, nannte sie eine »olle Transuse«.
Und als sie gar eines Tages verschmähte, mit ihm in die herrliche Gasröhre, welche Arbeiter vor ihrem Hause liegengelassen, zu kriechen, da hatte seine einst so getreue Genossin bei allen Streichen ein für allemal bei ihm verspielt. Sie war auch nicht besser als die anderen zimperlichen Mädel!
In der Schule zeigte es sich ebenfalls, daß Annemarie ihr frisches, lebhaftes Wesen durch die Krankheit eingebüßt hatte. Soweit es sich nur auf ein ruhiges Verhalten in den Stunden erstreckte, war ja das kein Fehler. Leider war Annemarie aber auch beim Unterricht oft abgespannt und teilnahmslos.
Sie war nun in die neue Klasse gekommen und hatte gleich am Anfang viel versäumt. Bei der ersten Rangordnung wanderte Annemarie Braun, die einstige Erste, auf die vierte Bank herunter. All ihre Freundinnen, ja selbst Ruth und Erna Rust saßen jetzt über ihr. Das war eine böse Erfahrung für Annemaries Ehrgeiz.
Margot Thielen, die glücklich war, ihre Annemarie endlich wiederzuhaben, tröstete sie, daß sie bald wieder heraufkommen würde. All ihre Hefte lieh sie ihr, daß die Freundin das Versäumte nachholen konnte. Aber das erlaubte Doktor Braun nicht, das geschwächte Kind sollte soviel Zeit wie möglich im Freien zubringen, im Tiergarten oder im Grunewald. Nur die schriftlichen Aufgaben durfte sie zu Hause anfertigen. Alles Mündliche mußte Fräulein Lena beim Spazierengehen mit ihr durchnehmen.
Die Mutter war dafür, ihrer blassen Lotte von Fräulein Hering, die so lieb zu dem Kinde gewesen, einige Nachhilfestunden erteilen zu lassen. Dadurch würde Annemarie leichter in der Klasse mitkommen und sich weniger anzustrengen brauchen.
Aber auch davon wollte der Arzt nichts wissen.
»Nein, Elsbeth, wir müssen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, daß unsere Lotte ihre alten Kräfte zurückerlangt. Wenn sie erst körperlich wieder frisch ist, wird sie die Schulweisheit leicht bewältigen. Wir haben nun schon alles mögliche angewandt: Eisen, Wein und Vitamine, Lebertran und Kiefernnadelbäder, aber ich sehe noch keinen rechten Erfolg. Das richtigste ist, wir schicken die Krabbe an die Nordsee. Gerade bei solchen durch überstandene Krankheit erholungsbedürftigen Kindern wirkt sie oft Wunder.«
»Mir soll's recht sein, Ernst, obwohl ich persönlich lieber ins Gebirge gefahren wäre. Aber wenn du es für notwendig hältst, reisen wir während der großen Ferien mit den Kindern an die Nordsee.«
»Das genügt nicht, mein Herz«, der Arzt zögerte, seiner Frau den Vorschlag zu machen, der ihr, wie er wohl wußte, weh tun würde. »Fünf bis sechs Ferienwochen sind gar nichts für ein Kind, das derart heruntergekommen ist. Das muß mal ein ganzes Jahr lang Nordseeluft schnappen.« Er machte eine Pause und sah seine Frau erwartungsvoll an.
Frau Braun lachte hellauf.
»Na, da können wir ja alle auf ein Jahr nach Helgoland oder Sylt übersiedeln. Du hängst deine Praxis an den Nagel und gehst auf den Hummerfang, und ich stricke Netze.« Wieder lachte sie.
Annemarie, die im anliegenden Kinderzimmer ihren vierblättrigen Kleetopf von Tante Albertinchen begoß, steckte neugierig den Blondkopf zur Tür herein, denn sie wollte wissen, was es da drin gar so Lustiges gebe. Aber »Wir können dich hier nicht brauchen, Lotte, geh nur wieder in deine Kinderstube«, rief ihr der Vater zu. Da zog sich das kleine Fräulein beleidigt zurück.
Drinnen im Wohnzimmer jedoch wurde weiter über sein Geschick verhandelt.
»Ich mache keinen Scherz, Elsbeth, es ist mein völliger Ernst. Gerade Winterkuren am Meer bewähren sich glänzend. Ich habe verschiedene Kinder in meiner Praxis, die danach erst aufgeblüht sind.«
Die Mutter lachte nicht mehr.
»Ja, aber Erni, wie denkst du dir das denn eigentlich? Soll ich ein ganzes Jahr lang mit dem Kinde von Hause
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