Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
wo ihre Fahrgroschen blieben.
»Aber nicht wahr, liebes Fräulein, du verbietest es mir nicht? Unsere Krieger ertragen mehr als das bißchen Regen für uns.«
Fräulein war nicht ihrer Meinung. »Ihr könnt euch aus den Tod erkälten, Annemiechen, wenn ihr mit feuchten Strümpfen und in den nassen Sachen den ganzen Vormittag in der Schule sitzt. Es genügt, wenn ihr bei trockenem Wetter den Groschen für die Verwundeten spart.« Dabei blieb es, trotz Nesthäkchens Bitten. Auch Margots Mutter hatte zum Glück die feuchten Wanderungen untersagt, so machten die Freundinnen nach wie vor den Schulweg gemeinsam.
Nicht nur die Gegend und das Gebäude, es hatte sich auch vieles andere in der Schule geändert. Von den jüngeren Lehrern waren jetzt fast alle einberufen, überall wurden Lehrerinnen statt ihrer angestellt. Zwei der Lehrer waren bereits gefallen, das hatten die Schulkinder tief empfunden. Da war wohl keins, das ein ganz reines Gewissen besaß, daß es nicht mal Unsinn in den Stunden getrieben oder die Lehrer nicht zufriedengestellt hatte. Wie gern hätte man jetzt, da es zu spät war, gut gemacht.
Aber auch der Schülerinnenkreis hatte manche Veränderung erfahren. Ostpreußenkinder, die mit ihren Eltern die Heimat verlassen mußten, waren eingeschult worden, manche auf Monate, manche nur aus Wochen. Aus Deutsch-Rußland und Polen waren viele deutsche Familien ausgewiesen oder geflüchtet, die ihre Kinder nun in Berlin in die Schule schickten.
Auch in die sechste Klasse war ein kleines Mädchen aus Czernowitz eingeschult worden. Es hieß Vera Burkhard und sprach, trotzdem der Vater Deutscher war, fast nur Polnisch. Ein bildhübsches Kind war es, mit langen, schwarzen Locken, zartem Gesichtchen und ängstlichen, blauen Augen. Das arme Ding kam sich ganz verlassen unter all den fremden Kindern vor. Von ihrer Sprache verstand es nur das Wenigste. Auch was die Lehrerinnen in der Stunde sagten, vermochte die kleine Vera nicht zu erfassen. Meistens saß sie gelangweilt während des Unterrichtes dabei, oder sie trieb inzwischen etwas anderes. Statt mitzuschreiben, malte sie Püppchen und Tiere auf ihr Löschblatt. Die Lehrerinnen konnten sie nicht mal tadeln, denn die Kleine verstand sie ja nicht.
Am schlimmsten aber erging es der kleinen Fremden in den Zwischenpausen. Wenn die andern Schülerinnen zusammen kicherten und lachten, wenn sie innig umschlungen oder zur langen Reihe eingehakt aus dem Schulhof auf und ab spazierten, dann stand Vera mit sehnsüchtigen Augen irgendwo allein in einer Ecke. Keins ging mit ihr von all den vielen Mädchen, keins forderte sie auf, an den lustigen Spielen im Hof teilzunehmen.
Wie kam es denn bloß, daß die kleine Vera so vereinsamt war, daß sich alle Kinder geflissentlich von ihr zurückhielten? Sie hatten doch sonst weiche, warme Herzen, die empfänglich waren für fremdes Unglück. Und Vera war doch eine kleine Heimatlose wie all die anderen, die vor den russischen Kosaken gefürchtet!
Gleich am ersten Tage war es gewesen. Da hatten Margot und Annemarie das fremde, kleine Mädchen, mit dem sie Mitleid hatten, aufgefordert, mit ihnen in der Pause zu gehen. Die Verständigung war aus die einfachste Art und Weise erfolgt. Von einer Seite hatte Annemarie, von der andern Margot den Arm der schwarzlockigen Vera durch den ihren gezogen, und dann hatten sie sich gegenseitig angelacht. Auch weiter wäre alles gut gegangen. Margot strich über das nette, grünschottische Kleid der neuen Freundin, zum Zeichen, daß es ihr gefiel, und Annemarie steckte ihr die Hälfte von der Schokolade, welche die gute Großmama ihr in die Frühstücksbüchse gelegt hatte, in den Mund. Dann sprachen die beiden Freundinnen Deutsch und Vera Polnisch. Natürlich verstanden sie sich nicht. Das war aber auch gar nicht nötig. Denn sie lachten sich halbtot über das Kauderwelsch.
Da kamen zwei große Mädchen aus der ersten Klasse, die ihr Haar schon ausgesteckt trugen, vorbei.
»Pfui, die gehen ja mit unseren Feinden Arm in Arm«, sagten sie ganz laut, als sie die fremde Sprache der Kleinen vernahmen.
Annemarie ließ erschreckt Veras Arm los. Gehörte diese wirklich zu Deutschlands Feinden? In Annemaries Köpfchen war ebensowenig Ordnung, wie öfters in ihren Schubladen. Russen und Polen waren darin lustig durcheinandergewirbelt, sie vermochte sie nicht auseinanderzuhalten. Nein, daß sie auch nicht eher daran gedacht hatte! Wie schämte sich Annemarie, daß sie so ehrvergessend gewesen und mit der
Weitere Kostenlose Bücher