Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
hinweg. Natürlich mußten die andern beiden mit hopsen.
»Weißt du noch, Annemarie, wie du nicht mit mir unter einem Schirm gehen wolltest?«, fragte Vera halb ernst, halb scherzhaft. Bis auf das rollende Rrr hörte man ihrer Sprache nichts Fremdes mehr an.
Annemarie legte der Freundin mit bittendem Blick die regenfeuchte Hand auf den Mund. Sie mochte nicht an jene häßliche Zeit erinnert werden.
»Aufgepaßt!«, eine Straßenfegerin hätte das Kleeblatt unter dem Regenschirm bei einem Haar mit ihrer Schaufel fortgekehrt.
Das verursachte wieder Lachen und Hopsen.
»Heiliger Bimbam, jetzt gibt es schon Straßenfegerinnen, und eine Postillionin habe ich neulich auch schon gesehen«, rief Annemarie belustigt.
»Na, in den Warenhäusern sind doch jetzt auch überall Fahrstuhlführerinnen«, fiel Margot ein.
»Und auf der Stadt- und Untergrundbahn sieht man nur Schaffnerinnen - - -«
»Wenn der Krieg noch lange dauert, steht bald an den Straßenecken eine Schutzfrau anstatt eines Schutzmannes«, unterbrach Annemarie die Freundinnen übermütig.
»Eigentlich ist es gar nicht zum Lachen, sondern sehr ernst«, Margot war die überlegteste von den dreien. »Zu uns kommt jetzt immer solche nette Briefträgerin. Die hat kleine unversorgte Kinder daheim und muß doch den ganzen Tag fort von Haus, um in dieser schweren Zeit durchzukommen.«
»Ja, es ist eine schwere Zeit«, nickte auch Annemarie mit drollig wirkendem Ernst. Sie dachte dabei an die Marmeladenbrote, die es jetzt statt der einstigen Buttersemmeln nur noch zum Frühstück gab. »Aber die Briefträgerin mag ich nicht, die hat uns noch keinen einzigen Brief von Mutti gebracht. So lange warten wir jetzt schon wieder auf Nachricht.«
»Die Briefträgerin kann sicher nicht dafür, Annemie«, verteidigte sie Margot.
»Am Ende sind die Fliegerbomben, die jetzt öfters auf London herabgerasselt sind, schuld, daß keine deutschen Briefe herausgehen dürfen, meint mein Bruder Hans. Ach, ich wollte, ich wäre ein armes Briefträgerinkind, das hat doch seine Mutter wenigstens des Morgens und des Abends.«
»Was soll ich erst sagen, Annemie!«, ganz leise kam es von Vera Lippen.
Annemarie drückte zärtlich ihren Arm. »Du hast recht, Vera, ich bin ein ganz undankbarer Schlingel!«
Mittags aber, als Annemarie bei der dampfenden Suppe saß und sich unten im Hof ein dünnes Kinderstimmchen hören ließ, das zur Laute der Mutter um ein paar Pfennige sang, dachte sie wieder, während sie der Kleinen ein Geldstück hinunterwarf: »Wie gern wäre ich das arme Kind und sänge bei diesem Hundewetter auf den Höfen, hätte ich nur meine liebe Mutti bei mir!«
Großmamas weichem Herzen tat die kleine Sängerin leid. »Rufe das Kind herauf, Annemie, es ist noch ein Teller Suppe übrig. Das arme Dingelchen hat gewiß heute noch nichts Warmes bekommen.«
Annemarie entledigte sich strahlend ihres Auftrags. Ein gutes Kind hilft ja so gern.
»Die Mutter ist auch mitgekommen, die arme Frau ist blind. Und das kleen Wurm is ja janz durchnäßt«, meldete Hanne.
»O weh, für zwei reicht die Suppe nicht mehr. Hätten wir doch jeder etwas weniger gegessen«, sagte Großmama bedauernd. »Großmuttchen, ich gebe meine Suppe, ja, bitte, bitte, erlaube es doch.« Nesthäkchen floß von Mitleid über. Hatte sie nicht die arme Kleine vor kurzem um ihre Mutter beneidet? Und nun war diese blind!
Großmama hatte nichts dagegen. Es schadet einem Kinde nichts, wenn es sich mal selbst Opfer auferlegt, um der Armut zu helfen.
Eigenhändig trug Annemarie ihren fast noch vollen Teller in die Küche und schaute mit frohen Augen zu, wie es hungrigen kleinen Sängerin mundete. Fräulein mußte sie wieder zu Tisch zurückholen.
Drin aber schlug Hans, seit kurzem Oberprimaner, vor: »Wir wollen uns jeder etwas weniger Fleisch und Gemüse nehmen, dann bleibt noch genügend für die armen Leute.«
»Brav, Hans«, lobte Großmama. Selbst Klaus hatte die löbliche Absicht, seinen Appetit etwas einzudämmen; es wurde ihm auch bei dem Kohlgemüse nicht allzu schwer. Aber als Hanne, die sich noch immer nicht an die Kriegssparsamkeit im Haushalt gewöhnen konnte, noch einen Eierkuchen auftrug, meinte Klaus bedauernd: »Ich glaube, jetzt kann das Mädel aber schon satt sein!«
»Pfui, Klaus«, rief Nesthäkchen eifrig, »das arme Ding hat in der Küche den schönen Eierkuchen gesehen und gerochen und soll nun nichts davon haben? Das wäre schlecht von uns.«
»Ja, Herzchen, es wird aber schwer halten,
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