Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
singend, fuhren die drei Freundinnen ihrer Universitätsstadt entgegen. Annemaries ausgelassene Art steckte selbst die ruhige Marlene an. Das war ein Lachen, Scherzen und Singen zu den Klängen des Akkordeons, das Nesthäkchen in die neue Heimat begleitete. Die Mitreisenden hatten ihre helle Freude an den jungen Mädeln.
So kam man gegen achtzehn Uhr nach Würzburg.
»Würzburg soll die schönste Barockstadt sein«, bemerkte Ilse, das Bauratstöchterlein.
»Müssen wir unbedingt sehen. Fahrtunterbrechung ist gestattet.« Annemarie war bereits Feuer und Flamme für die neue Idee.
»Dann haben wir keinen Tag mehr für Stuttgart. Das Semester beginnt doch schon in zwei Tagen«, widerlegte Ilse. »Und an dem vorgenommenen Reiseprogramm hält man auch fest.« Bei Marlene mußte alles geordnet zugehen.
»Aber aussteigen muß ich, Kinderchen, ich verdurschte. Ob ich mal ganz schnell zum Büfett dort drüben hinspringe und uns eine Pulle Coca-Cola hole? In zwei Minuten bin ich wieder da.« Annemarie war bereits an der Tür.
Die beiden Kusinen hielten sie fest.
»Nicht doch, Annemarie, du könntest den Zug versäumen.«
»Es wird sicher noch jemand mit Getränken kommen.« Alle beide versuchten sie, Annemarie zurückzuhalten.
Aber wenn Nesthäkchen sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer, es vom Gegenteil zu überzeugen. Und außerdem quälte der Durst. »Was seid ihr für eine umständliche Gesellschaft – bis ihr mit eurer langatmigen Auseinandersetzung fertig seid, bin ich zehnmal wieder da – auf Wiedersehen –« fort war sie.
»Sie brauchen keine Sorge zu haben, meine Damen, der Zug pflegt hier in Würzburg immer längeren Aufenthalt zu haben«, beruhigte ein Mitreisender sie.
Am Büfett war es voll. Es dauerte lange, bis Annemarie, obwohl sie ihre Ellenbogen zu brauchen verstand, das gewünschte Getränk erhielt. Für Flasche und Glas waren drei Mark Pfand zu lassen. Annemarie lief dann zum Zug zurück, um auch die Freundinnen zu erquicken.
»Steig ein, Annemarie, der Zug kann abgehen«, drängte Marlene, sich kaum Zeit zum Trinken nehmend.
»Fällt mir nicht im Traume ein. Kommt doch auch noch ein bißchen raus.«
»Nein, Annemarie, du weißt nicht, wie lange der Aufenthalt noch dauert. Bitte, steig doch ein«, versuchte auch Ilse sie zu überreden.
»Was seid ihr für nervöse junge Damen! Immer mit der Ruhe!« lachte Nesthäkchen ausgelassen und ließ sich das Getränk schmecken.
»Flink, Annemie, sieh nur, die anderen Leute steigen alle schon ein.« Ilse war ganz aufgeregt.
Wirklich, der Bahnsteig leerte sich.
»Euer Wunsch ist mir Befehl. Ich will nur noch Flasche und Glas abgeben.«
»Ach, nimm sie doch mit, komm bloß schon!« Auch die ruhigere Marlene wurde durch Ilses Aufgeregtheit angesteckt.
»Ihr seid wohl ’n bißchen hops?« Annemarie tippte mit der Flasche gegen die Stirn. »Drei Mark Pfand habe ich darauf zurückzubekommen. Die lasse ich auf keinen Fall schießen.« Aller Einwendungen der beiden ungeachtet, lief Annemarie noch einmal zum Büfett. Wieder eine Verzögerung – die Büfettdame hatte das Geld nicht gleich passend zur Hand. Aber Nesthäkchen blieb ganz sorglos. Unbekümmert machte es kehrt, nachdem es das Geld endlich erhalten hatte und – da fuhr der Zug bereits.
»Halt – halt!« schrie Nesthäkchen hinterdrein, »ich muß ja noch mit!«
»Annemarie« ein entsetzter Doppelschrei von irgendeinem Fenster her. Dann sah die hinter dem Zuge Herlaufende nur noch die schwarze Rauchfahne.
Annemarie blieb mit ziemlich verdutztem Gesicht stehen, und dann brach sie plötzlich in helles Lachen aus. Nein, war das komisch! Sie konnte sich gar nicht beruhigen.
Ein Herr, der einen Freund zur Bahn begleitet hatte, wandte sich ihr zu. Er hatte das Intermezzo beobachtet. Aber daß jemand in solchem Falle lachte, anstatt sich darüber zu ärgern, das war ihm doch noch nicht vorgekommen.
»Ein unfreiwilliger Aufenthalt, gnädiges Fräulein«, meinte er lächelnd. »Aber es lohnt sich halt, dem schönen Würzburg einen Besuch abzustatten.«
»Ich fahre gleich mit dem nächsten Zug hinterdrein nach Stuttgart.« Das war wieder echt Nesthäkchen.
»Damit werden’s heut nimmer Glück haben, gnädiges Fräulein. Der nächste Zug nach Stuttgart geht nit vor morgen früh gegen sechs Uhr.«
»Wa-as?« Nun bekam die junge Dame doch einen Schreck. »Aber das ist ja gar nicht möglich. Ich werde mal den Stationsvorsteher fragen.«
»Das haben Sie nit nötig. Ich bin
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