Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Frühlingsgrün umsponnen, geführt hatte. Auf einer Steinbank sitzend, schmauste sie abwechselnd Backwerk und Apfelsinen, die sie unterwegs gekauft hatte, lauschte sorglos dem Gezwitscher der Vögel und dachte mit keinem Gedanken daran, daß Marlene und Ilse sich um ihren Verbleib sicher Sorgen machen würden.
Aus den Hofgärten der alten Häuser zu Würzburg duftete fast überall blühender Flieder. Blau, weiß, rot – ein schier endloses Blühen und Duften. Immer weiter schritt Annemarie in den herrlichen Frühlingsabend hinein. Jetzt stand sie an einem breiten Fluß. Boote und Flöße zogen dahin, lichtgrüne Hügelketten säumten das jenseitige Ufer. Und über das ganze Bild wölbte sich, durchsichtig wie eine Glasglocke, ein Abendhimmel in zarten Farben. War das schön! Ein Gartenrestaurant, ganz versteckt unter Fliederbüschen, von dem aus man den Blick über den Strom hatte, lockte Annemarie. Sie hatte rechtschaffenen Hunger, und in ihrem wenig einladenden »Hotel« mochte sie nicht zu Abend speisen. So stieg sie das Steintreppchen zum »Weißen Lamm« empor.
»Gibt’s hier ein Spezialgericht in Würzburg?« fragte sie den Kellner, eingedenk, daß Hans von seiner Studienreise einst erzählt hatte, jede Stadt habe ihre besonderen Gerichte.
»Ja, unsere Spezialität hier ischt Pfannkuche«, lautete die Antwort.
»Na, dann bringen Sie mir mal Pfannkuchen«, bestellte Annemarie, obwohl sie diese eigentlich zum Kaffee oder Silvesterpunsch geeigneter fand als zum Abendessen. Aber wie angenehm war sie enttäuscht, als der Kellner mit einem prächtigen Eierkuchen erschien.
»Was trinkt man denn hier?« Annemarie wollte stilgerecht in Würzburg speisen.
»Halt a Moscht«, schlug der Kellner vor.
»Moscht – was ist denn das?«
»Moscht ischt halt Moscht«, erklärte der Kellner überzeugend.
Aber als sie dann das apfelweinsäuerliche Getränk kostete, stieß das Naturkind ein vernehmliches »Pfui Deixel!« hervor.
Sie begann mit dem Kellner eine Unterhaltung.
»Ist das der Neckar?« fragte sie, auf den Fluß weisend.
»Aber nimmer-das ischt halt unser Main.«
»Bald gras’ i am Neckar, bald gras’ i am Main«, began Annemarie unbekümmert zu summen.
»Sie sein halt nit von hier?«
»Nee«, machte Nesthäkchen im echten Berliner Dialekt und begann sich nun doch etwas seiner Unbildung zu schämen. Trotz des Abiturs hatte Geographie niemals zu Annemaries stärkster Seite gehört. Der Kellner würde es ihr wohl nicht weiter verübeln, und der einsame Gast, der dort hinter den Fliederbüschen saß, war in seine Zeitung vertieft.
»Bleiben’s hier bei uns in Würzburg?« Der Kellner fühlte sich jetzt verpflichtet, die hübsche junge Dame zu unterhalten.
»Nee, ich fahre morgen nach Stuttgart und dann weiter nach Tübingen.«
»Ach, nach Stuckart wollen’s? Da kenn’ i mich auch aus.«
»Wo speist man denn da am besten?« erkundigte sich Annemarie, welcher der Eierkuchen mundete.
»In Stuckart allemal am beschten im,Elefant’.«
»Danke vielmals.« Annemarie zog ein kleines Notizbüchlein aus dem Täschchen und schrieb sich den Elefanten auf. Wie würden sich Marlene und Ilse freuen, wenn sie ihnen ein gutes Lokal empfehlen konnte.
Der Herr hinter der Fliederhecke war schon lange aufmerksam geworden. Jetzt erhob er sich mit plötzlichem Entschluß.
»Gnädiges Fräulein, der Stuttgarter ,Elefant’ mag ja ganz gut sein, aber für junge Damen ist das sicher nit der geeignete Aufenthaltsort. Ich bin halt aus Stuttgart und weiß dort Bescheid«, mischte er sich plötzlich in die Unterhaltung.
Annemarie blickte überrascht hoch. Es dämmerte bereits, aber – war das nicht – die braunen Haare, die grauen Augen, das schmale Gesicht – natürlich, das war ja der fremde Herr vom Bahnhof, den sie hatte abfallen lassen. Nun hatte sie sich schon wieder vor ihm blamiert. »Danke sehr für Ihren Rat«, sagte sie möglichst von oben herab, »ob ich ihn befolgen werde, weiß ich noch nicht.«
»Verzeihung, wenn ich halt zudringlich gewesen bin.« Der Fremde zog sich wieder an seinen Tisch zurück.
Zum zweitenmal abgeblitzt – Nesthäkchen vermochte sich seines Triumphes nicht zu freuen. Es wurde Annemarie unbehaglich in dem idyllischen Mainlokal.
Mußte der Fremde auch gerade wieder ihren Weg kreuzen! Sie zahlte und erhob sich, ohne noch einen Blick durch die Fliederhecke zum Nachbartisch zu werfen.
Am Main war es noch einigermaßen hell. Aber als Annemarie jetzt eine stadtwärts führende Straße
Weitere Kostenlose Bücher