Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
denken, Annemarie?« Er griff nach ihren kalten Händen.
»Manchmal - mal ein bißchen - wenn - wenn Sie mich anranzen wollen, wie heute vormittag.« Vergeblich versuchte Annemarie zu scherzen. Wo war all ihre Keckheit hin?
»Nein, Annemarie - das mag ich nimmer. Einschränkungen lass' ich mir nit auferlegen. Alles will ich halt - dich ganz und gar. Gelt, jetzt sperrst dich nimmer, Herzle? Gelt, hast es halt eing'sehen, daß wir beid' zueinander gehören - daß nix uns zu trennen vermag?« Kühn umarmte er sie.
»Nicht anfassen - ich bin naß wie eine Katze!« wehrte Nesthäkchen, barg aber ungeachtet dieser Worte den nassen Kopf an Rudolfs nicht minder feuchter Brust.
»Annemarie, ich wart' halt auf die Antwort -« drängte er.
»Die wissen Sie doch selbst. Daß ich Sie liebhab', das wissen Sie seit der Nebelhöhle. Und daß - daß ich Ihre Frau nicht werden kann, das hab' ich Ihnen doch auf dem Ulmer Münster auseinandergesetzt.« Annemarie zitterte vor Erregung.
»Ruhig, Herzle, ruhig! Was drunten unter der Erde begonnen und droben in den Lüften nimmer zunichte werden könnt', das soll jetzt auf der Erde uns fest miteinander verbinden. Dein Vater ist der letzte, der sich dem Glück seines Kindes in den Weg stellen würde. Und schlimmstenfalls meld' ich mich bei ihm als Ersatzmann. Also ich denk', du fügst dich, mein Lieb - wenn's auch das erste Mal in deinem Leben ist.« Er küßte ihr die Tränen von den Augen.
»Und Ola?« warf Annemarie noch pflichtschuldig ein.
»Ola wird am End' auch einen - Ersatzmann finden«, scherzte Rudolf in seligem Glück. »Hast es nimmer g'merkt, Herzle, daß der Hans und die Ola einander mögen? Dein Bruder und ich, wir haben bereits Schwagerschaft miteinander getrunken.«
»Ohne uns zu fragen?« begehrte Annemarie auf. Und dann plötzlich, die ganze Glücksübermacht erst richtig fassend, schlang sie jubelnd beide Arme um Rudolfs Hals: »Dann darf ich Sie liebhaben!«
»Sie darfst nimmer liebhaben - Du bin ich und Rudi, verstehst?«
»Das werde ich nicht lernen - dazu hab' ich zuviel Respekt vor meinem Herrn Vorgesetzten«, klagte Annemarie mit drolligem Ernst.
»Bis zu unserer Silberhochzeit wirst's halt können, gelt, mein Nesthäkchen, mein lieb's?«
»Halt - Nesthäkchen dürfen Sie mich nicht nennen! Das war' ja noch schöner, wenn ich als - als - na ja, als Braut auch noch Nesthäkchen genannt werde. Dagegen protestiere ich ganz energisch.«
»Schön - schließen wir halt einen Vertrag. Sobald du wieder ,Sie' zu mir sagst, nenn' ich dich zur Straf halt Nesthäkchen.« Ganz fremd erschien der sonst so ruhige Herr Doktor der Annemarie in seiner Ausgelassenheit.
Die beiden merkten nicht, daß Donner und Blitz längst ausgetobt hatten, daß der Gießbach da draußen in sanftes Plätschern übergegangen war. Erst als die Sonne plötzlich wieder durchbrach, erwachten sie aus ihrer Glücksversunkenheit.
»Ein Regenbogen - ein wundervoller Regenbogen!« Wie ein Kind jauchzte Annemarie.
Arm in Arm schritt Nesthäkchen mit Rudolf Hartenstein unter glitzernden Zweigen mitten hinein in den in allen Farben leuchtenden Regenbogen.
Nesthäkchen ist Braut
Vera wartete heute vergeblich auf die Freundin. Zweimal hatte sie schon telefonisch angeläutet, um zu hören, wo Annemarie denn stecke. Minna deckte bereits den Abendbrottisch. Der Vater war gerade im Begriff, am Krankenhaus Westend anzurufen, ob Annemarie noch dort sei, denn so spät war es noch nie geworden.
Da erklang Annemaries doppeltes Klingelzeichen.
Hanne öffnete mit bärbeißiger Miene.
»Na - du hast woll ooch nich eher nach Hause finden können, was? Nächstens behalten se dir ooch noch nachts ins Klinik. Viermal hat unsereins das Essen schon wieder aufjewärmt!« schimpfte Hanne.
Statt jeder Antwort, die Annemarie sonst stets bereit hatte, fiel sie der verwunderten Köchin wie früher als Kind um den Hals. »Schimpfen Sie nicht, Sie oller Drachen, Sie! So, da haben Sie einen Kuß zur Versöhnung.«
»Puh - du triefst ja wie'n nasser Scheuerlappen! Zieh dir jleich um, Annemariechen, sonst haste deinen Schnuppen wech!« mahnte Hanne vorsorglich.
»Wenn Sie nicht mehr brummen wollen, Hanne, erzähle ich Ihnen nachher was Wunderschönes - Sie können mir gratulieren«, flüsterte Annemarie der treuen Alten ins Ohr.
Die sah sie verständnislos an.
»Haste wieder 'n Examen jemacht, Annemariechen?«
»Ja - das allerschwerste meines Lebens!« Nesthäkchen lachte wie ein Kobold.
Fort war sie, wie ein
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