Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Annemarie konnte nicht zu Ende sprechen; denn draußen klingelte es.
»Das ist er - das ist der Rudi - ach, und ich bin noch nicht mal umgekleidet -.« Sie stürmte zur Eingangstür.
Hanne, die bereits im Begriff war, zu öffnen, wurde trotz ihrer Vierschrötigkeit beiseite geschoben.
»Na, biste denn janz und jar nicht, Annemariechen!« - Aber wie zweifelte Hanne erst an Annemaries Verstand, als sie sehen mußte, daß sie einem Herrn, den sie im Halbdunkel nicht mal erkannte, in die Arme flog. Ganz ungeniert.
Ja, waren das etwa Studentenmanieren? Hier im Braunschen Haus herrschte Anstand und Sitte! Sie begann Nesthäkchen energisch aus den sie umstrickenden Armen zu ziehen.
»Benimm dir jefalligst, Annemariechen. Laß man deine Frau Mutti kommen, die wird dich die Flötentöne schon beibringen. Das jibt's nicht bei uns hier ins Haus.
Liebschaften und Herumscharmuzieren. Dafier sorch ich. Det hab' ich die Minna auch jleich jesagt -« Das lustige Lachen der beiden unterbrach die Moralpredigt der Küchenfee.
»Na, wo steckt er denn, unser Herr Schwiegersohn? Traut er sich nicht näher?
Hat auch allen Grund dazu, wenn er uns unser Nesthäkchen wegschnappen will.«
Ungeachtet dieser polternden Worte zog jetzt ihr Herr Doktor zu Hannes größter Verblüffung den Besuch selbst in seine Arme.
»Grüß Gott! - Bin ich euch recht - Vater?« Weiter hörte Hanne nichts mehr. Die Zimmertür schlug hinter den dreien zu.
Hanne aber hatte auch genug gehört. »Schwiejersohn - Vater - ich sag' Ihn'n, Minna, wenn det nicht 'ne rejelrechte Verlobung mit Heiraten is, denn können Se mir für dämlich erklären. Det sieht ja 'n Blinder ohne Brille, det unser Nesthäkchen bis über de Ohren valiebt is. Mir braucht keen Mensch nich erst was zu sagen! Ich mach' schnell noch 'n paar Spiejeleier zum Sparjel - madig machen tu' ich mir nich an'n Verlobungsabend.«
Noch ehe der elektrische Draht es in die Welt hinausgerufen hatte, daß Nesthäkchen Braut sei, wußte man's schon unten bei Kulickes in der Hausmeisterwohnung.
»Doktor Brauns Nesthäkchen ist Braut!« Noch vor der Großmama erfuhr man's im Milchgeschäft, beim Bäcker und Gemüsehändler - die ganze stille Straße hallte bald davon wider: »Doktor Brauns Nesthäkchen ist Braut!« Denn Hanne war, obwohl ihre Füße nicht mehr so recht wollten, schneller als jede elektrische Leitung. Aber auch nicht lange dauerte es, da erschien auch schon Großmama und wollte Nesthäkchen gar nicht wieder aus ihren Armen lassen. »Nein, unser Kind, wer hätte das gedacht!«
Dahinter tauchte Tante Albertinchen auf. Ach Gott, daß sie das noch erlebte,, daß aus Nesthäkchen statt Fräulein Braun Frau Dr. Hartenstein wurde! Da kamen die Freundinnen in höchster Aufregung. Zuerst Margot, der Annemarie durch dreimaliges Klopfen an die Balkonwand zu verstehen gegeben hatte, daß eine Sache von ungeheurer Wichtigkeit vorliege. Margot verstand die ehemalige Backfischsprache noch so gut, daß sie zwei Minuten später bereits den Kopf neugierig zur Tür hereinsteckte.
Da wäre Vera am liebsten gleich durchs Telefon zu Annemarie hingeflogen, als ihr diese den Grund ihrer Unpünktlichkeit mitteilte.
»O Annemarie, du schlechterr Seele, deine beste Freundin nichts vorrherr davon zu verraten. Werr ist es denn, derr dich sein Herrz verrstohlen hat?«
»Komm her, Verachen. Wer der Herrlichste von allen ist, wird durchs Telefon nicht verraten!« Nein, Nesthäkchen war doch noch genau so rangenhaft wie früher, daß es die arme Vera so zappeln ließ.
An die Getreuen im Schwabenland aber ließ das neugebackene Brautpaar folgendes Telegramm los:
»Neschtbäkche ischt Braut Wem wird's halt wohl angetraut? - Knackt die Nuß und ratet fein - Ischt es auch ein Joarter Stein'!«
»O Gott, der arme Neumann, das überlebt der nicht!« lachte Annemarie und machte Karpfenaugen, die noch melancholischer dreinschauten als die des biederen Schwaben.
»Neschthäkche, wenn'sch halt so garschtig bischt, heirat' i di nimmer!« Rudi kopierte getreu die Sprache des Tübinger Freundes. Annemaries Übermut wirkte ansteckend.
Mit neugierigen Gesichtern umstanden die Freundinnen die erste Braut aus ihrem Kreise. Natürlich mußten sie gleich Brüderschaft mit Rudi trinken.
Eine kam, vor der Annemarie kein ganz reines Gewissen hatte. Das war Ola. Als sie Annemarie liebevoll in die Arme schloß: »Weil's halt gar so ein lieb' Mädle bist, soll's dir nit nachgetragen sein, daß du mir den Rudi abspenstig machst. Grad
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