Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
kultivieren«, seufzte Annemarie drollig.
»Kinder, nun laßt doch bloß mal Margot ihre Neuigkeit loswerden. Sie erstickt ja sonst«, unterbrach Hans die Übermütigen.
»Richtig! Auch ein prämiiertes Mastvieh?« Klaus entfesselte wieder eine Lachsalve. Denn auf die überschlanke Margot angewandt, wirkte die Bezeichnung besonders komisch.
»Kinder, ihr müßt den Spaß nicht zu weit treiben«, lenkte Frau Braun ein. »Also, Margot, jetzt berichte du uns.«
»Ich bin in einen Verlag für Entwürfe von Buchschmuck eingestellt worden«, berichtete Margot freudig und stolz.
»Gratuliere, großartig, was ihr schon erreicht habt! Und unsereins krabbelt immer noch auf der untersten Stufe der Wissenschaftsleiter herum. Eigentlich könnte ich euch beneiden.« Annemarie seufzte.
»Dafürr steigen du späterr um so höherr auf das Leiterr herrauf«, tröstete Vera.
»Und Vaters Assistentin zu werden, ist gar nichts - he, du Schlingel?« Dr. Braun hob das Gesicht seiner Jüngsten zu sich empor. »Bist ja so kleinlaut, Lotte. War dein Herr Lehrer heute nicht mit dir zufrieden?«
Annemarie stimmte in das Lachen der anderen über Vaters Witz mit ein.
Immer schöner, immer sonniger wurden die Maientage. Das Blühen und Duften wurde von Tag zu Tag berauschender. Jeden Morgen blickte man in den strahlenden Himmel. Es wollte sich noch immer nicht das kleinste Wölkchen zeigen.
Da - eines Mittags gewahrte man einen leichten Schleierdunst über der hohen Kastanie, die vor dem Krankenhaus stand.
Als Annemarie nach Tisch ihr Krankenjournal erledigt hatte, war der feine Dunst schon zu mehreren Wolken verdichtet. Als man mit der Nachmittagsvisite fertig war, segelten grauschwarze Wolken wie aufgescheuchte Raubvögel um den Schloßturm.
Jetzt stand Annemarie im Portal des Krankenhauses und blickte prüfend in die drohenden Wolkenmassen. Ob sie noch trocken zu Vera kam? Sie hatte noch ein Stück zu gehen, bis zum Schloß. Von dort aus konnte sie dann die Bahn benutzen. Vorwärts!
Nachdem Nesthäkchen etwa fünf Minuten im Eiltempo gelaufen war, fielen die ersten Tropfen. Schwer und langsam. Umkehren? Ausgeschlossen! Es war ja gar nicht mehr weit bis zum Schloß. Annemarie beschleunigte ihr Tempo.
Schneller aber noch als sie war der Gewitterregen. Wolkenbruchartig rauschte er plötzlich wie eine Dusche über Nesthäkchen herab. Blitze zuckten wie gelbe Schlangen. Donner krachte.
»Annemarie - Annemarie -« narrte sie der Gewittersturm oder war das wirklich Rudolf Hartensteins Stimme hinter ihr?
Annemarie jagte, vom Sturm vorwärts getrieben, weiter. Nicht einmal den Kopf vermochte sie zu wenden.
»Annemarie - !« Da hatte er sie erreicht.
Ein schwarzes Regendach wölbte sich über ihre triefenden Blondhaare. Ein Gummimantel hing ihr plötzlich schützend über dem durchweichten Kleid.
»Was laufen's denn gar so arg, Fräulein Kollegin, nehmen's mich doch mit«, meinte Rudolf, nachdem er wieder Atem schöpfen konnte. »Sie sind ja gut ausg'waschen. Kommen's nur ein bißle näher, einhaken mögen's ja nit, gelt? 's geht halt auch so!« Er hielt den Schirm schräg über ihr Haupt, ungeachtet dessen, daß er nun selbst naß wurde.
Blitz und Donner zugleich - ohrenbetäubend. Unwillkürlich griff Annemarie schutzsuchend nach dem Arm ihres Begleiters. Der tat, als merke er die kleine, nasse Hand nicht, die sich an seinen Arm klammerte.
»Wir waren halt schon mal bei so einem arg bösen Wetter beieinand'.« Er lächelte.
»Ja, in der Nebelhohle -« entfuhr es Annemarie.
»Ich meint' halt in Blaubeuren auf dem Rusenschloß. An die Nebelhöhle hab' ich nimmer g'dacht«, behauptete Rudolf.
Nesthäkchen biß sich auf die Lippen. O Gott, er würde doch nicht etwa annehmen, daß sie ihn an die Nebelhöhle, die seinem Gedächtnis ganz entschwunden war, hatte erinnern wollen? Nur das nicht!
Sie hatten die Rokokohalle erreicht, die in den Schloßgarten führte. Hier fanden sie Schutz vor Regen und Sturm.
Still war es zwischen ihnen geworden.
»Annemarie - wollen's meinem Gedächtnis nit ein bißle nachhelfen?« Rudolfs Augen forschten bang in Annemaries Zügen.
Es zuckte darin - es kämpfte - Trotz, Stolz, Liebe und Nachgiebigkeit. Immer weicher wurde der Ausdruck ihres Gesichtes, je länger sie Rudolfs Blick auf sich fühlte. Da war er wieder, der Herzenston, der so lange verstummt gewesen war.
»Ich glaube, Sie haben die Nebelhöhle ganz vergessen!« Leise, ganz leise kamen die Worte von Annemarie zu ihm.
»Darf ich daran
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