Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
trat sie an das Bett des kleinen Paul, über das Rudolf Hartenstein sich gerade neigte.
»Die Schwellung geht zurück - bitte, wenn sich's davon überzeugen wollen, Kollegin.« Als ob nicht das geringste vorgefallen wäre, machte er sie auf Einzelheiten der verschiedenen Krankheiten aufmerksam. Von Bett zu Bett - kleine Ärmchen streckten sich Annemarie zärtlich entgegen.
Da nahm ihre ernste Miene vor all der Freude, die ihr Erscheinen auslöste, Reißaus.
»Tante Annemarie soll das Pflaster auflegen, Tante tut nicht weh -« weinte ein kleines Ding.
»Tante Annemarie kann auch weh tun und findet halt nimmer das Pflaster für die Wunde.« Der junge Arzt sprach es leicht scherzend zu dem weinenden Kind. Er tat, als bemerke er nicht, daß seine junge Begleiterin blaß und rot wurde.
Der Kindersaal war durchwandert. Weiter zur Frauenstation. Stumm schritten die Beiden nebeneinander her.
»Es muß Ihnen doch Freude machen, daß Ihnen von unsern Mädle und Buben hier soviel Liebe entgegengebracht wird«, begann der Assistenzarzt, nachdem er sein schweigsames Fräulein Kollegin ein paar Mal von der Seite angeschaut hatte.
Keine Antwort. Nesthäkchen schien noch zu schmollen.
»Seien's doch nit kindisch, Annemarie. Ich mein's halt nimmer bös, wenn ich auch mal aus der Haut fahr'. Zum Kuckuck, Sie sind halt hier, um zu lernen.«
»Aber nicht, um mich wie ein dummes Ding abkanzeln zu lassen«, sprudelte es da von Annemaries Lippen. »Wenn die Kleinen mit ihrer Anhänglichkeit nicht wären, hielte ich es überhaupt hier nicht aus. Mit einem guten Wort kann man alles bei mir erreichen. Aber Zurechtweisungen gegenüber werde ich störrisch - die verbitte ich mir.«
»So-o«, sagte Dr. Hartenstein und suchte vergeblich ein belustigendes Schmunzeln zu verbergen. »Ich hab' halt geglaubt, es tat' Ihnen nimmer was an liebevoller Behandlung liegen.«
»Aber an höflicher!« Nesthäkchen schoß das Blut ins Gesicht. »Schlimm genug, daß ich Ihnen das erst sagen muß.« Der Mund lief wieder mal mit ihr davon.
»Sie haben mir halt schon so manches gesagt, was Ihnen am End' hinterher leid gewesen ist. Ich will annehmen, daß es mit Ihren letzten Worten das gleiche sein wird.« Das klang wieder zurechtweisend.
Rudolf Hartenstein öffnete die Tür zur Frauenabteilung. Nur noch sachliche Worte fielen. Auch später bei dem gemeinsamen Mittagessen der Ärzte und Arztinnen sprachen sie nicht miteinander.
Bei Familie Braun saß man abends auf dem Balkon. Die Linden davor waren jetzt herrlich grün. Vera Burkhard und Margot Thielen waren zu Besuch bei Annemarie. Sie hatte jetzt nur noch abends Zeit für die Freundinnen. An dienstfreien Nachmittagen studierte Annemarie, um möglichst bald das Physikum machen zu können.
»Annemarie - Marrgott und ich, wirr brringen dich zwei Neuigkeiten mit - rrate!« begann Vera aufgeregt.
»Ihr habt euch verlobt?« Klaus, der jetzt ebenfalls wieder daheim war, kam seiner Schwester zuvor. »Wir beide miteinander?« lachte Margot.
»Viel viel schönerr. Ich werrde zu Herrbst eine künstlerrische Atelier fürr Kinderrbildnisse erröffnen. Ich haben geschickt auf das Ausstellung fürr künstlerische Fotogrrafie und sein worrden prrämiierrt.« Veras zartes Gesicht strahlte.
»Wie freue ich mich für dich, Verachen, daß du so schöne Erfolge hast«, stimmte Annemarie in die Freude mit ein.
»Das Mastvieh auf unserem Hof wurde auch vorigen Herbst prämiiert.« Der Klaus war immer noch ein Frechdachs, obwohl er schon ein Schnurrbärtchen trug.
»Als höfliches Kavalierr du würrdest werrden niemals prrämiierrt, Klaus.« Wenn die Freundinnen da waren, gab es Neckereien und Wortgeplänkel wie einst in Kindertagen.
Margot druckste. Sie wollte so gern ebenfalls ihre Neuigkeit loswerden.
»Ich-« begann sie.
»Höfliches Kavalier wird man nicht unter Kühen und Ochsen.« Klaus zuckte gleichmütig die Achseln.
»Na, erlaube mal gefälligst«, legte Nesthäkchen los. »Die Hauptzeit deines Lebens hast du doch wohl nicht unter Kühen und Ochsen verbracht.«
»Dann waren es Gänse.«
»Ich habe ebenfalls« mir ihrer Schüchternheit, die sich noch nicht verloren hatte, versuchte Margot vergeblich, sich in dem Lachen Gehör zu verschaffen.
»Was hast du ebenfalls, Margot? Dein Leben unter Gänsen zugebracht? Ich habe, soweit es euer Kränzchen betrifft, niemals daran gezweifelt.«
»Der Klaus ist schrecklich verwildert. Der reine Bauer ist er geworden. Das wird viel Mühe kosten, ihn wieder zu
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