Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
lag draußen über Baum und Strauch. Frühlings- und Glückesahnen schaute aus den Augen der jungen Braut. Die übermütige, ausgelassene Ursel war keine so strahlende Braut, wie man sich das wohl vorgestellt hatte. Bei allem tiefen Glücksempfinden webte die Wehmut des Scheidens einen neuen Reiz um sie. So schritt sie am Arm des Geliebten aus dem schützenden Elternhause hinaus in unbekanntes, fremdes Land.
Dann kam ein Tag, an dem Frau Annemarie all ihre Willenskraft, all ihr energisches Wollen treulos im Stich ließ. In Hamburg war's, auf St.-Pauli-Landungsbrücken. Als die Schiffssirene zur Abfahrt aufheulte, als sich die weinende Ursel aus dem Arm der Eltern lösen mußte, da gab es einen, der lauter heulte als die Schiffssirene, einen, der sich nicht von seiner Freundin zu trennen vermochte. Cäsar war nicht dazu zu bewegen, das Schiff zu verlassen. Umschlungen vom Arm ihres Mannes, klammerte sich Ursel fest an den Hals des treuen Gefährten ihrer Mädchentage, der ihr in fremdes Land hinüber folgte. Zum zweiten Male blühte die Linde seit jenem Tage. Unter den süß duftenden Blütenbüscheln saß Frau Annemarie. Die Arbeit ruhte im Schoße. Es gab jetzt nicht mehr soviel zu nähen und zu flicken, seitdem das Nest leer geworden war, seitdem der Sohn auf eine andere Universität gegangen war; in Würzburg studierte er jetzt, wo seine Eltern sich einst kennengelernt hatten.
Still war es in dem Lichterfelder Professorenhaus geworden. Ganz still. Seitdem auch Cäsar seinem Vaterlande untreu geworden war und keine mißliebigen Überfälle mehr auf das Biedermeierzimmer unternahm. Am Vormittag, wenn der Professor in seiner Klinik war, hatte Frau Annemarie viel Zeit zum Denken und Sinnen. Da zogen ihre Gedanken auf die Wanderschaft. Über den Atlantischen Ozean schwammen sie, in das Tropenland zu ihrem fernen Nesthäkchen. Dann öffnete sie den Lederkasten, der Ursels Briefe enthielt. Viel Glück enthielten sie, erfülltes Frauenglück. Aber auch manche heimliche Träne entdeckte die Mutter zwischen den Zeilen. Besonders die ersten Briefe erzählten der Mutter von manchem Sehnsuchtsgedanken der Tochter. Niemals ausgesprochen, Ursels Briefe waren stets heiter und übermütig, ein getreues Abbild ihrer selbst. Jeder andere als die Mutter las darüber hinweg. Da waren zuerst die Briefe vom Schiff, voller Begeisterung über das Leben und Treiben auf solch einem großen Überseedampfer. »Auf dem Deck geht man wie auf einer Kurpromenade spazieren. Oh, Muzi, was sieht man da für elegante Toiletten. Trotzdem findet Milton seine Frau am schönsten von allen. Er ist rührend lieb zu mir, auch Margarida. Wenn er merkt, daß ich mal über das große Wasser nach Norden zurückblicke - wo ich Europa vermute, dann versucht er stets, mich durch Liebkosungen oder irgendeine Zerstreuung wieder froh zu stimmen. Hilft das noch nicht, so ruft er Cäsar herbei. Der ist Miltons bester Bundesgenosse. Wenn Cäsar mich mit seinen treuen Augen anschaut, dann vergesse ich, daß ich nicht mehr daheim bei Euch in Lichterfelde bin, sondern auf dem Atlantischen Ozean. Cäsar ist wie ein Stück Heimat für mich. Unsere Grüße aus Lissabon und Madeira, wo wir an Land gingen, habt Ihr wohl erhalten. Oh, wie herrlich ist die Welt! Es ist auf dem Schiff, als ob man in einem Seebad wäre. Am schönsten ist es abends. Jeden Abend Musik und Tanz. Milton tanzt wundervoll. Neulich wurde ich gebeten, zu singen. Die Passagiere waren fast noch dankbarer und begeisterter als das Publikum bei meinem ersten Konzert. Ich fange sogar schon an portugiesisch zu sprechen, allerdings noch recht mangelhaft. Ihr könnt Euch nicht denken, wie stolz Milton auf mich ist. Vaterle denkt jetzt sicher, was ist das für ein unnützes Drohnenleben. Und auch meine kleine Muzi meint, solch ein elegantes Luxusdasein hat dem Prinzeßchen nur gefehlt. Hab' ich's erraten, mein kleiner Muz?«
Jeder Brief brachte eine Fotografie von Ursel. Das war der Gruß, den der Schwiegersohn, der eifrig den Knipskasten handhabte, den deutschen Eltern mitsandte. Da war die Ursel im Reisehütchen - dort am Klavier. Hier in eleganter Promenadentoilette neben Cäsar. Dort am Teetisch mit Milton und Margarida zusammen. Und überall strahlte Glück und Heiterkeit aus ihren Augen. Nein, da durfte Frau Annemarie keine Sehnsucht aufflammen lassen.
Ein Brief vom 3. März: »Sturm - toller Sturm. Drei Tage lang. Unser Schiff schaukelte wie eine Nußschale. Man konnte an Schreiben nicht denken. Hansi,
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