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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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Er schien nur Augen für die Schönheit der italienischen Hafenstadt zu haben. Achtlos glitt sein Blick über sie hinweg - wie schon so manches Mal. Gleichgültig schritt Horst Braun weiter.
    Es wurde Marietta weh zumute, bis ins innerste Herz hinein. Wo war die tiefe Freude hin, die dem Ankommenden entgegengeflogen war? Er hatte sie nicht einmal erkannt - grenzenlose Enttäuschung kroch in Mariettas Herz. War es nicht das Vernünftigste, sie fuhr mit dem nächsten Zug nach St. Margherita zurück und erwartete dort den Besuch des Vetters?
    Aber der Vernunft pflegt man ja selten zu folgen, wenn das Herz Entschuldigungsgründe anführt. Unmöglich konnte er sie hier in Genua vermuten - er hatte sie ja überhaupt nicht angeschaut - war ihre Empfindlichkeit nicht kindisch? Während diese Gedanken mit Blitzesschnelle hinter Mariettas Stirn für und wider stritten, folgte sie seiner hohen Gestalt. Jetzt winkte er einem Gepäckträger und übergab ihm das Handgepäck. Sein Gesicht war stark gebräunt, stach seltsam ab gegen die hellen Augenbrauen, das lichtblonde Haar. Er blickte auf das Wiedersehensglück ringsum, und seine Stirn furchte sich. Nein, er würde es doch nicht mehr ein paar Tage in Genua aushalten, so wunderbar die Stadt schien und so sehr er gewünscht hatte, sie kennenzulernen. Jetzt, wo er wieder Europa betreten hatte, trieb es ihn zurück in die Heimat, an die Waterkant zu den alten Eltern. Das Gescheiteste war, er ließ das Gepäck gleich zum Bahnhof schaffen und gab den geplanten Besuch bei der Schwester der alten Donna Tavares auf. Da trat ihm ein Mädchen in den Weg. Eine junge Dame, weiß gekleidet. Er wollte höflich ausweichen, plötzlich - durchzuckte es ihn. Goldigbraunes Kraushaar, tiefschwarze Samtaugen, ein zartes Blumengesicht, das konnte nur ... das war ...
    »Willkommen in der Heimat!« Deutsche Laute, weich und warm, klangen wie Musik an sein Ohr. Aber die schmale Hand, die sich ihm entgegenstreckte, war kalt trotz italienischer Mittagsglut. Die kleine Hand zitterte.
    »Marietta - Jetta, Kind, bist du's denn wirklich? Wie freue ich mich! Das ist ein gutes Omen, daß du mir als erste den Willkommensgruß bringst.« Er hatte auch ihre andere Hand ergriffen und schüttelte sie freudig.
    »Ich bringe dir Grüße, Horst, von der Waterkant. Von deinen Eltern, besonders von der Mutter.«
    »Und ich dir von der deinigen. Wenn meine Grüße auch nicht mehr so ganz frisch und warm sind wie deine. Ich glaubte nach Muttings letztem Brief, du seist noch immer an der Waterkant mit deinen Feriengören. Statt dessen treffen wir uns hier in Genua. Das ist wirklich eine herrliche Überraschung.« Etwas Strahlendes, Leuchtendes ging von Horst Braun aus. »Also, was nun zuerst? Wo wohnst du? Wo werde ich wohnen?« erkundigte er sich mit einem Blick auf den wartenden Gepäckträger. Er hatte es vergessen, daß er noch soeben ohne Aufenthalt Weiterreisen wollte.
    »Ich bin bei Saninis, der Schwester von Großmutter Tavares. Sie wohnen jetzt draußen in St. Margherita-Ligure. Es ist angenehmer, dort zu wohnen, als hier in der heißen Stadt. Ich dachte, du nimmst vielleicht auch dort Wohnung in einem Hotel oder in einer Pension«, schlug Marietta vor.
    »Vortrefflich - einverstanden. Das Gepäck werden wir inzwischen am Bahnhof lassen. Und dann sollst du mein Cicerone - Fremdenführer - hier in Genua sein. Jetta, Dirn, was bin ich glücklich, daß ich den amerikanischen Staub von den Füßen geschüttelt habe. Mir ist zumute wie früher als Schuljunge, wenn es zu den Ferien heimging.« Vom Bahnhof ging es zur Stadt. In verwandtschaftlicher Selbstverständlichkeit schob Horst seinen Arm in den Mariettas. Sie gab sich redlich Mühe, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Ebenso ihrem Posten als Fremdenführer Ehre zu machen. An Zitronenverkäufern, die mit lautsingender Stimme ihre »limona - limona« ausriefen, vorüber, zur Via Baldi. Marietta machte ihren Begleiter auf alles aufmerksam, was sie selbst begeistert hatte: auf die engen, echt italienischen, zum Hafen hinunterführenden Gäßchen mit ihren malerischen Wäschestücken; auf die Osterien, in denen singende und lärmende Matrosen aller Länder und Rassen zechten. Sie kamen an den Waschhof, an dessen rundem Brunnen bronzefarbene Wäscherinnen mit edler Grazie Wäsche spülten. Schwarzäugige, schmutzige Barfüßchen bettelten die Fremden an und streckten ihnen ihre braunen Händchen entgegen.
    Marietta, deren mitleidiges Herz besonders armen Kindern

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