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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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Dank, Onkel Enrico. Ich gehe lieber zu Fuß. Dabei lerne ich Land und Leute besser kennen.«
    »A rividerci - auf Wiedersehen, Marietta! Um siebzehn Uhr fahre ich nach St. Margherita zurück, falls du mit dem hoffentlich inzwischen eingetroffenen Signore mit hinausfahren willst.«
    Der Onkel grüßte noch einmal mit der Hand zurück, mit einer Grazie, wie sie nur dem Italiener eigen. Dann stand Marietta unter verstaubten Palmen allein auf dem Bahnhofsplatz neben dem Standbild des großen Genuesen Kolumbus. Zum Hafen hinunter - Marietta eilte, als ob das Schiff bereits vor Anker gegangen wäre. Auf den Bänken sonnte sich heftig gestikulierendes Volk. Schiffsmannschaft aller Länder, weiß, gelb und schwarz. Große, hochbordige Ozeanfahrer bildeten Spalier im Hafen. Hier wurde mit riesigen Kränen ausgeladen, dort aus den Speichern mit Tonnen und Kisten befrachtet. »Barca, Signorina - barca per la lanterna ...« von allen Seiten sah sich Marietta von dunklen Gestalten umdrängt.
    »Wann läuft die Patria ein?« erkundigte sich die junge Dame. »Domani, morgen - questa sera, heute abend.« Die Angaben widersprachen sich. »Rudern Sie mich bitte zur lanterna.« Entschlossen wandte sich Marietta einem der braunen Burschen zu. Dort am Leuchtturm würde sie Genaueres erfahren, vielleicht die Patria schon sichten können.
    Durch das Schiffsgewirr hindurch suchte die barchetta mit dem im Stehen rudernden Bootsmann ihren Weg zu dem weit hinausgebauten Leuchtturm. Der schwarzäugige Bursche unterhielt die junge Dame mit einer Lebhaftigkeit, wie nur je ein Tischherr bei einer Gesellschaft. Er machte sie mit Stolz auf all die Schönheiten seiner Heimat aufmerksam.
    »Ecco la lanterna.« Die Barke hielt. Ein grauhaariger Leuchtturmwächter nahm sie in Empfang. Freilich würde man die Patria von oben sichten können. »Avanti - avanti!« Stufen, Stufen - und wieder Stufen. Marietta hatte geglaubt, bei der Besteigung des Mailander Doms schon Erhebliches geleistet zu haben, aber der Leuchtturm schien ihn noch zu übertreffen. Endlich trat sie herzklopfend, sturmumweht hinaus auf die Plattform. Sie schaute nicht auf das weiße Häusergewirr Genuas, nicht auf das malerische Hafengetriebe zu ihren Füßen. Nur das Meer, das unendliche, fesselte ihren Blick. Was - dieser Punkt, selbst ihren jungen, scharfen Augen ohne Fernglas kaum wahrnehmbar, das war die gewaltige Patria? Ihre Hand zitterte, als sie jetzt das Fernrohr darauf richtete.
    »Wie lange kann es dauern, bis sie im Hafen ist?« erkundigte sie sich eifrig. »Sie fährt mit Volldampf - in einer, höchstens zwei Stunden.«
    Ebenso erstaunt wie erfreut blickte der Leuchtturmwächter auf das überreiche Trinkgeld, das ihm die junge Signorina in die Hand drückte. Ein Wunder war es, daß Marietta mit heilen Gliedern unten anlangte. Sie jagte die ins Endlose gehende Treppe hinab. »Zurück in den Hafen!« rief sie dem gemütlich in der heißen Sonne faulenzenden Burschen zu. »Schneller - können Sie nicht schneller rudern?«
    »Piano - piano - wir haben Zeit!« Der schwarzhaarige Begleiter lachte, daß seine weißen Zähne blitzten.
    Viel zu früh erreichten sie den Hafen. Marietta verweilte an der von weißer Wellengischt umbrodelten Steintreppe. So stand sie wogenumrauscht im Wind und schaute dem Heimkehrenden entgegen. Kein Gefühl der Ermüdung, des Hungers kam ihr. Wie würde Horst zur Heimat zurückkehren? Als ein Enttäuschter, Müder?
    Von dem Schiff aus Spanien, das unweit lag, klang fremdländischer Gesang. Gelbhäutige, schlitzäugige Menschen fanden sich im Hafen zum Empfang der Patria ein, in allen Sprachen durcheinanderredend.
    Größer und größer wurde der Punkt. Er nahm Form an, er kam näher und näher. Und dann war er plötzlich da, der Riesenkoloß. Menschengewirr, Zurufe, Winken und Tumult. Horst Braun war einer der letzten, die das Schiff verließen. Es drängte ihn nicht, es erwartete ihn keiner, wie die andern. Groß, breitschultrig und blond, so ragte er aus der erregten, größtenteils dunklen Menge heraus. Unverwandt blickte er der europäischen Heimat entgegen.
    Marietta hatte ihn sofort erspäht. Sie wollte rufen, winken, sich bemerkbar machen, wie die andern es taten. Weder Stimme noch Arm gehorchten ihr. Und als sie ihr stürmisch klopfendes Herz endlich einigermaßen zur Ruhe gezwungen, da war Horst bereits von dem Menschenknäuel verschlungen.
    Marietta lehnte abseits an einer Palme. Sie sah den blonden Riesen wieder aus dem Wirrwarr auftauchen.

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